Digitale Geisteswissenschaften / Digital Humanities

Screen shot 2014-06-24 at 3.32.50 PM

Das Konzept des distant reading ist die Antwort des Komparatisten Franco Moretti auf die Frage, wie sich eine Geschichte der Weltliteratur schreiben lässt, wenn niemand alles lesen kann, nicht in der eigenen und schon gar nicht in allen Sprachen. Die Idee hinter distant reading: „Literaturgeschichte wird bald schon etwas anderes sein als das, was sie jetzt ist. Sie wird zu einer Literaturgeschichte ‚aus zweiter Hand’ werden, zu einem Patchwork aus den Ergebnissen anderer Forscher, und zwar ohne die direkte Lektüre einzelner literarischer Texte.“[1]

Denkbar wäre zum Beispiel die Untersuchung der Texte Kleists und seiner Zeitgenossen auf so genannte stilometrische Muster, anhand derer sich die Frage beantworten ließe, ob sich Kleist fundamental von den klassischen und romantischen Autoren seiner Tage unterscheidet. Freilich müssen bei einem solchen Verfahren immer die genauen Suchvorgänge und die Programmierungen offen liegen, damit eine algorithmische Kritik jederzeit möglich ist.

Doch nicht nur die Literatur, auch unzählige andere Bereiche werden von der Digitalisierung der Geisteswissenschaften erfasst. So lässt sich mit Hilfe großer Datensätze verfolgen, „über welche Netzwerke die Idee des Nationalstaats im 19. Jahrhundert diffundierte und wie viele Korrespondenzpartner daran beteiligt waren. Die Ergebnisse visualisierte [der niederländische Kulturhistoriker Joep Leersen] in einem Diagramm, das Edinburgh ebenso umfasst wie Sarajevo. So konnte er zeigen, dass nur wenige Autoren und Knotenpunkte notwendig werden, um der Idee Geltung zu verschaffen.“[2]

In der Archäologie werden statt realer gefundener Bruchstücke heute ihre 3D-Visualisierungen durch die Museen der Welt geschickt, um herauszufinden, an welche Skulptur sie passen.

Und die European Holocaust Research Infrastructure führt polnische Steuerverzeichnisse, deutsche Deportationslisten sowie Audio- und Filmaufzeichnungen zu einer durchsuchbaren digitalen Datenbank zusammen, um die bis heute fehlenden zwei Drittel der Namen der im Holocaust ermordeten Juden zu rekonstruieren. (Nicht ironiefrei, dass solche Verfahren auch der Traum aller sind, die so effizient wie möglich verfolgen wollen.)

[1] zitiert nach Gerhard Lauer in Die digitale Vermessung der Kultur in Big Data, Suhrkamp Verlag 2013

[2]ebd.

Leser:innenkommentare (1)

Kommentar hinzufügen

Verwandte Artikel