Die Soziologie der Maschinen

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High Frequency Trading ist die Bezeichnung für Börsentransaktionen, die in größtmöglicher Geschwindigkeit von Rechnern ausgeführt werden. Dabei geht es um jede Milli-, ja sogar Mikrosekunde. Entscheidend ist, wer über die schnellste Datenverbindung verfügt, und die schnellste Datenverbindung kann schlicht und ergreifend die kürzeste sein – nämlich die desjenigen Rechners, der physisch der Börse am nächsten steht.

Dirk Helbing, von Hause aus Physiker, heute Professor für Soziologie an der ETH Zürich, erzählt uns, dass diese Börsenhandelscomputer regelmäßig sogenannte Flash Crashs produzieren. Dabei werden durch scheinbar fehllaufende Interaktion mehrerer Rechner und daraus resultierender Reaktionsketten große Geldwerte vernichtet, und zwar schneller, als ein Mensch den Stecker ziehen kann.

„Wir brauchen also“, frage ich Helbing, „nicht mehr nur eine Soziologie, die den Menschen, sein Verhalten und seine Interaktionen beschreibt, sondern auch eine Soziologie der Maschinen?“ – „Ja“, überlegt Helbing, „durchaus, wir brauchen heute auch eine Soziologie von interagierenden Maschinen, denn wir schaffen künstliche soziale Systeme, in denen Computer mit Computern interagieren, Roboter mit Robotern, aber auch Roboter mit Menschen, Menschen mit Computern – all das wird sich durchmischen.“ Wir haben eine Technosphäre geschaffen, deren Komplexität es zumindest gefühlt mehr und mehr mit derjenigen menschlicher Aktivität oder der natürlicher Ökosysteme aufnehmen kann.

Einige Tage später liefert uns Prof. Michael Resch vom Höchstleistungsrechenzentrum der Universität Stuttgart bereits die spezifische Soziologie der Börsencomputer. Die Rechner machen keine Fehler, sagt er. Sie agieren streng nach Maßgabe der Algorithmen, die man ihnen einprogrammiert hat. Algorithmen sind Vorgaben für Handlungsabläufe. Jedes Backrezept ist ein simpler Algorithmus: Wenn der Teig aufgegangen ist, dann walze ihn aus. Für den Computer bedeutet das: Wenn du an der Börse diese oder jene Aktivität beobachtest, dann reagiere auf diese oder jene Weise.

Das Problem der Flash Crashs ist also, so Resch, nichts als ein Modellierungsproblem. Unterschiedliche Börsenhändler haben ihre Rechner auf der Grundlage unterschiedlicher Modelle programmiert, also auf der Grundlage unterschiedlicher Annahmen darüber, was bestimmte an der Börse stattfindenden Aktivitäten bedeuten und wie auf sie zu reagieren sei. So kann eine an sich harmlose Aktivität eines Rechners eine ganze Kette automatisierter Reaktionen anderer Rechner auslösen, die zur blitzschnellen Vernichtung großer Geldsummen führt, während die Rechner im Sinne ihrer Algorithmen alles richtig gemacht haben.

Wird es ähnliche Phänomene auf den Straßen zu sehen geben, wenn wir dereinst in semi- und vollautomatischen Autos unterwegs sind? Der Mobilitäts- und Zukunftsforscher Stephan Rammler, Gründer des Instituts für Transportation Design in Braunschweig, legt uns dar, wie die Automobilität im digitalen Zeitalter aussehen wird: „Man spricht vom autonomen oder automatischen Fahren, vom Roboterauto, und vom semiautonomen Auto. Digitale Technologien werden eingesetzt, um den Fahrprozess zu automatisieren, den Fahrer zu entlasten und den Verkehr sicherer zu machen.“ Beim semiautomatischen Fahren assistiert das Auto dem Fahrer beispielsweise beim Abstandhalten, beim Halten der Spur, beim Bremsen – Assistenzsysteme dieser Art sind heute bereits im Einsatz.

Beim Vollautomatischen Fahren wird man dem Automobil das Fahren komplett übergeben können und sich von A nach B befördern lassen, während man Zeitung liest, chattet oder ein Schläfchen hält. Hoffnung, dass die Sicherheitsstandards dabei höher liegen werden als in der IT-Branche, macht eine Anekdote Michael Reschs: „Die Automobilleute, die in unserem Rechenzentrum Simulationen zu Verbesserung ihrer Modelle in Auftrag geben, sagen mir immer wieder: ‚Wenn wir so wenig auf Sicherheit achten würden wie die IT-Industrie, hätten wir längst dicht machen können.’“

Dennoch, wie sicher wird es sein, dass die Rechner in den Fahrzeugen – heute befinden sich in einem durchschnittlichen Fahrzeug bereits 60 Computer – keine Flash Crashs im Verkehr erzeugen werden, wenn sie miteinander auf der Grundlage unterschiedlicher Modellierungen kommunizieren, oder auf der Grundlage von Daten aus kaputten Sensoren? Dann wird es nicht nur Geld, sondern auch Leben kosten. Ein Fall, der einige juristische Probleme birgt, wie Stephan Rammler weiß: „Wer ist bei einem Unfall im vollautomatisierten Verkehr verantwortlich? Der Fahrer, der eigentlich gar nicht gefahren ist? Das System? Oder der Betreiber des Systems? Oder der Automobilhersteller? Diese Fragen sind ungelöst, doch die Gesetzgebung wird, angetrieben durch die normative Kraft des Faktischen, auf die Existenz dieser Technologie reagieren und Lösungen finden.“

Dirk Helbing, der vor einigen Jahren die Pilgerströme Mekkas mithilfe von Bewegungsstromanalysen neu organisierte und damit den regelmäßigen tödlichen Massenpaniken an der Kultstätte ein Ende machte, ist guter Dinge, dass uns Rechner zu einer besseren Zukunft verhelfen können: „Kann man bestimmte Entscheidungsprobleme, in denen Menschen in der Vergangenheit Fehler gemacht haben, überwinden, indem man in den jeweiligen Systemen gleichzeitig Computeragenten mitwirken lässt? Wahrscheinlich ja.“

Versuchen wird man es auf jeden Fall, daran lässt sich kaum zweifeln. Und beruhigend wirkt sein Glaube an den Übergang unserer datenarmen Zivilisation in die lichte Zukunft einer datenreichen Gesellschaft auch, besonders in diesen eher sinistren Tagen der staatlichen Massenüberwachung, des Durchleuchtens von Kunden und der Monopolisierung des einst so frei wirkenden Netzes. Ganz mitreißen lassen kann ich mich von seinem Optimismus dennoch nicht. Wie alle Technologien, die eine bessere Zukunft versprachen, wird auch der Computer neben seinen Segnungen den Menschen auch seine verheerende Kraft spüren lassen. Wir erleben just heute den Moment, in dem wir beginnen, genau das zu verstehen. Auch das neue, digitale Feuer kann beides: es wärmt und es vernichtet.

Leser:innenkommentare (1)

  1. Soziologischer Monatsrückblick Mai 2014 | soziologiemagazin

    […] 5. Ein Physiker, der nun Professor für Soziologie an der ETH Zürich ist, plädiert für eine Soziologie der Maschinen. Computer interagieren mit Computern, Roboter mit Robotern oder Roboter mit Menschen – was hat das für Folgen? Der Artikel Die Soziologie der Maschinen nachzlesen auf dem Blog Revolution – Der Blog zur Wissenshow. […]

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