Von der Interviewreise – Denkende Dinge

Klimarechenzentrum1

In dem abgedunkelten Zimmer in einer Studenten-WG in Darmstadt drehen wir unsere ersten Interviews. Im Raum stehen nur wenige Dinge: Ein niedriges Regal, ein Tisch mit einer Tastatur und zwei Bildschirmen darauf, ein Stuhl, eine alte Couch, ein Bett. Dazwischen haben wir unsere Sachen aufgebaut: drei Stative, zwei Kameras, ein Licht. Gunther richtet noch unseren Beamer ein, der Röntgenbilder von technischen Geräten auf die Wand hinter den Interviewpartnern werfen wird. Ich sitze auf meinem Stuhl dicht neben der Kamera, mein Laptop auf den Knien, und schaue Alyna an, die mir gegenüber sitzt und darauf wartet, dass es losgeht.

Da sehe ich plötzlich, wie sich die Dinge im Raum teilen: in die dummen Dingen, die ihren bescheidenen Dienst tun, und die anderen, die irgendwie denkenden Dinge. Schreibtisch, Regal, Couch, Stuhl, Bett gehören zu den alten Dingen. Sie verarbeiten nichts, senden nichts (abgesehen von der Idee ihres Wesens und ihrer Nutzung) und empfangen nichts (abgesehen uns, wenn wir sie nutzen).

Sie harren der Ausführung ihrer Funktion. Wenn sich während zwanzig Jahren niemand auf sie setzt, werden noch immer da stehen. Vernichtet sie vorher niemand, überdauern sie uns. Amalgame aus einst lebendiger und mineralischer Materie, stehen sie in Verbindung mit archaischen Prozessen der Erde, mit allmählichem Werden, schleichendem Vergehen. Die Zeit verlangsamt sich, wenn sie über ihre Oberfläche gleitet.

Video: Objektausweis

Die neuen, die glänzenden, meist schwarzen Dinge, Kamera, Beamer, Bildschirme (deren einer zugleich ein Computer ist), unsere aufgeklappten Laptops  – eigenartig setzen sie sich von den alten Dingen ab. Als trüge man auf der Schulter einen Raubvogel durch eine Herde Schafe. Sie denken die ganze Zeit. Sie berechnen die Zeit, melden ihren freien Speicherplatz und ihre Akkulaufzeit, reagieren aufs Licht, stellen selbsttätig scharf, verarbeiten Text und kommunizieren mit uns, zeigen uns auf Bildschirmen Teile dessen, was sie gerade tun.

In ihrer Nähe beschleunigt die Zeit, strömt schneller, verwirbelt, alles an ihnen treibt uns zur Eile an. In zwei, drei Jahren schon werden sie veraltet in einer Kiste landen. Die dumpfen alten Dinge, scheint es, sind ihnen vollkommen fremd. Sie haben nichts miteinander zu tun, abgesehen davon, dass die einen die anderen beobachten könnten.

Wir haben eine neue Kategorie Dinge in die Welt gebracht, denke ich, während Gunther das Hintergrundbild einstellt, Dinge, die nicht tot sind, aber auch nicht lebendig, in denen sich etwas regt: Statistik, in ständiger Umformung begriffen. Nur Statistik, möchte man sagen, nur Rechenprozesse – und keine Spur von Bewusstsein.

Und doch geschieht es in der gekühlten Halle des Supercomputers, den wir einige Tage später im Stuttgarter Höchstleistungsrechenzentrum besichtigen, vor diesem riesigen schwarzen rechnenden Ding, vor dessen Lärm man sich mit Micky-Mäusen schützen muss, dass ich eine Gänsehaut bekomme und mich der Vorstellung nicht erwehren kann, dass es hier sein wird, in der Stätte des größten aller neuen, belebten Dinge, wo eine fortgeschrittene Künstliche Intelligenz einst – bald? – die Augen aufschlagen wird. Wird sie nicht, nicht hier. Das ist klar. Hier werden nur unvorstellbar schnell unvorstellbar viele Rechenschritte vollzogen. Aber ist es nicht nur eine Frage der Programmierung, was diese Großstadt der Festplatten tut?

„Seit wann lebst du mit Computern?“, frage ich Alyna, die ein so genannter Digital Native ist.

Video: Multichat

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