PS144: 20 Jahre SUIT – Der „Kampfwagen“ in Aktion
Es war eine verrückte Idee, die von vielen Forschenden mit Skepsis betrachtet wurde: Ein Forschungsnetz, das an der Unterseite des Eises entlang gleitet und die dort lebenden Kleintiere einfängt. Aber der niederländische Ornithologe Jan Andries van Franeker war überzeugt, dass man einen neuen Ansatz brauchte, um ein Paradox im antarktischen Ökosystem lösen zu können: Mit klassischen Methoden fand man in den tieferen Wasserschichten des antarktischen Ozeans schlicht zu wenig Krill, Fisch und Zooplankton, um den Nahrungsbedarf der zahlreichen Robben, Vögel und Wale tief im antarktischen Packeis zu decken. Jan van Franeker war überzeugt, dass Krill und andere Kleintiere, die an der Unterseite des Packeises leben, eine zentrale Bedeutung für die Vögel und Meeressäuger hatten, aber der schwer zugängliche Lebensraum unter dem Eis ließ sich nicht mit konventionellen Methoden beproben. Also machte sich im Jahr 2003 eine kleine Gruppe Techniker und Wissenschaftler am Institut Alterra (heute Wageningen Marine Research, WMR) auf der niederländischen Insel Texel auf, um ein Forschungsnetz zu entwickeln, mit dem sich die Eisunterseite beproben ließ, das Surface and Under-Ice Trawl (SUIT). Neben Jan van Franeker waren Koos Zegers, André Meijboom und Michiel van Dorssen an den ersten Entwürfen beteiligt. Ich sollte meine Doktorarbeit über die mit dem SUIT gewonnenen Ergebnisse schreiben und konnte dafür an der ersten SUIT Expedition mit Polarstern (ANT XXI-4) teilnehmen.

Das SUIT besteht aus einer Art Untereis-Schlitten aus schweren Stahlrohren, der von Auftriebskörpern an der Oberfläche gehalten und von einem Eisbrecher gezogen wird. Eine spezielle Aufhängung bewirkt, dass es hinter dem Schiff seitwärts ausschert, und Gummiräder an der Oberseite sorgen dafür, dass es unter dem Eis gleitet. Gebaut wurde das SUIT von dem Texeler Metallbauer Michiel van Dorssen. Im Frühjahr 2004 ging es dann los: Das SUIT wurde zum ersten Mal von dem Eisbrecher Polarstern aus im antarktischen Packeis eingesetzt. Die ersten Einsätze waren schwierig und stießen auf viel Kritik und Häme bei den anderen Forschenden an Bord. Meinen Doktorhut sah ich im eisigen Ozean versinken. Bei der Mannschaft hatte das SUIT schnell seinen Spitznamen weg: der „Kampfwagen“. Erst als der Polarstern-Offizier Uwe Grundmann (siehe Bild) eine Geschirrung entwickelte, die das sichere Aussetzen und Einholen des tonnenschweren „Kampfwagens“ ermöglichte, zeigten die ersten Fänge, dass das SUIT unter dem Packeis eine einzigartige Lebensgemeinschaft zu Tage fördern konnte. Doch ohne die wissenschaftliche Unterstützung durch den damaligen Fahrtleiter Ulrich Bathmann vom AWI hätte es wohl nie mehr als diese ersten Versuche gegeben.

Am Ende konnte ich dann doch meine Doktorarbeit abschließen. Und sie sollte nicht die einzige bleiben. Auf der aktuellen Polarstern-Expedition PS144 „ArcWatch-2“ haben wir das SUIT inzwischen zum 246. Mal in einer der beiden Polarregionen ausgesetzt. Ausgerechnet eine Winter-Expedition mit Polarstern unter widrigsten Bedingungen in der Antarktis hält den Rekord für die meisten SUIT-Einsätze pro Reise: Kapitän Stefan Schwarze (siehe Bild) und seine Besatzung ermöglichten 32 Untereis-Beprobungen. Neben der Polarstern haben es auch die australische Aurora Australis, die Japanische Kaiyo Maru, und die US-amerikanische Sikuliaq eingesetzt. Auf Proben und Daten aus dem SUIT basieren bis heute acht weitere Doktorarbeiten sowie zahlreiche Bachelor- und Masterarbeiten und über 40 wissenschaftliche Publikationen. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehörte der Nachweis, dass sich oft mehr antarktischer Krill in den meist eisbedeckten oberen zwei Metern des Ozeans aufhält als in den tieferen Wasserschichten. In der Arktis half das SUIT, die Wanderungsbewegungen des ökologisch wichtigen Polardorsches unter dem Meereis nachzuzeichnen. Schließlich gelang mithilfe chemisch-physikalischer Analysen auch der Nachweis, dass die Kleintiere an der Eisunterseite eine Schlüsselrolle in den arktischen und antarktischen Nahrungsnetzen spielen, indem sie Kohlenstoff aus Eisalgen aufnehmen und ihn über die Nahrungskette in die polaren Ökosysteme übertragen. Inzwischen dient das SUIT nicht nur der biologischen Forschung, sondern liefert dank einer Reihe von auf dem Gerät installierten Sensoren auch einzigartige Daten über die physikalischen Eigenschaften des Meereises und des Untereis-Lebensraumes.

So leistete der „Kampfwagen“ in den vergangenen 20 Jahren einen kleinen Beitrag zur Erforschung der Rolle des Meereises in polaren Ökosystemen – und damit auch zu einem besseren Verständnis der Veränderungen, die wir durch die Eisschmelze zu erwarten haben, die die menschengemachte Klimakrise ausgelöst hat. Manchmal lohnt es sich, eine „verrückte Idee“ gegen alle Widerstände zu verfolgen. Überraschende Einsichten und Ergebnisse bringt es allemal.
Hauke Flores





Leser:innenkommentare (1)
Amazing Botanicals
„This is such a fascinating read! It’s incredible to see how the SUIT has evolved over 20 years and continues to play a crucial role in polar research. The detailed insights and stunning images really bring the expedition to life. Thanks for sharing this exciting update!“