Hinter der Nebelwand

Dickes, fettes Walross auf der Backbord Seite! Foto: N. Goldbach

Von Maren Richter |

Der Eisbär! Foto: N. Goldbach

Wir nähern uns dem Ende unserer Reise und nach fast drei Wochen an Bord habe ich noch immer keinen Eisbären gesehen! Dabei haben mir frühere Fahrtteilnehmer versichert, ich würde auf jeden Fall Eisbären sehen. Und wenn schon nicht weit draußen in der Framstraße, dann garantiert, wenn wir nach Grönland zum Gletscher fahren. Da ich schon die ganze Fahrt über die Eissituation vor dem Gletscher mit Hilfe von Satellitenbilder beobachte, weiß ich, wie viel Glück wir haben müssten, um bis zum Gletscher zu kommen. Noch einen Tag, bevor wir die endgültige Entscheidung über unseren weiteren Fahrtverlauf treffen müssen, sind die Verankerungen, die wir vor dem Gletscher bergen wollen, noch von dickem Festeis bedeckt.

Festeis ist Meereis, das an der Küste, am Meeresgrund, oder an auf dem Meeresgrund aufsitzenden Eisbergen festgefroren ist. Polarstern kann zwar durch dickes Eis fahren, aber nur, wenn das Eis zur Seite weggedrückt werden kann. Ist das Eis Festeis, muss Polarstern sich einen Weg durch das Eis rammen. Das geht zwar auch, braucht aber viel Zeit – Zeit, die wir nicht mehr haben. Am Tag der Entscheidung erwarten der Fahrtleiter, der Kapitän und ich mit Spannung die neusten Satellitenbilder. Und warten, und warten. Die Bilder kommen nicht. Wir beginnen alle möglichen Alternativen durchzusprechen, und immer noch keine aktuellen Bilder. Endlich, doch noch ein Bild. Ich lade es in das Anzeigenprogramm und dann die Enttäuschung: ausgerechnet heute ist der Satellit so geflogen, dass der Bereich, der uns interessiert, knapp außerhalb des Bildes liegt! Der Satellit, der uns die Bilder liefert, kommt höchstens zweimal pro Tag über unsere Region. Doch es gibt auch andere Satelliten, die uns ungefähr einmal pro Stunde neue Bilder liefern können. Diese Bilder haben zwar eine deutlich geringere Auflösung und können nicht durch Wolken hindurch sehen, aber immer noch besser als blind zu fahren. Sie zeigen etwas, das ein Riss im Festeis sein könnte. Der Riss führt genau zu einer unserer Verankerungen. Nachdem ich schon fast nicht mehr daran geglaubt hatte, entscheiden wir uns, es zu riskieren und nehmen Kurs Richtung Grönland.

Die Sonne scheint und die Stimmung ist gut. Auf dem Krähennest hat man die beste Aussicht. Foto: D. Kuhlmey

Morgens früh ist die Spannung groß, wann werden wir Grönland sehen? Finden wir den Riss? Werden wir dort arbeiten können? Bisher hatten wir fast nur schlechte Sicht und dichten Nebel. Doch vor Grönland soll das Wetter normalerweise gut sein. Ich gehe auf die Brücke und sehe: Nebel. Wir können kaum 100m weit schauen, wie soll man in so einer Suppe einen Riss finden, der nur wenige hundert Meter breit ist? Doch der Ehrgeiz der Besatzung ist geweckt. Ich erstelle eine Karte mit allen Informationen, die ich zu Wassertiefe, Eissituation und den Verankerungen habe und zeige den Riss, dem wir folgen wollen. Der Kapitän meint: Das schaffen wir! Inzwischen kann ich mit einem Fernglas die Küste von Grönland erkennen, wenn ich weiß, nach was ich suchen muss. Sonst könnte es auch einfach dunkler Nebel sein… Aber der Fahrtleiter hatte mir, als er mich fragte, ob ich mitfahren könne, versprochen, dass wir Grönland sehen würden. Das ist eingetreten, wenn auch nicht so wie erwartet.

Wal voraus! Foto: C. Rohleder

Wir folgen der Eiskante, von der wir vermuten, dass sie zu unserem Riss führt. Gerade habe ich mich wieder an meinen Arbeitsplatz gesetzt und will voller Motivation starten (es gibt ja doch nichts zu sehen, da kann ich auch am Computer arbeiten), da reißt der Nebel auf! Ich laufe an Deck und sehe strahlenden Sonnenschein, die grönländische Steilküste direkt neben uns, riesige Gletscher in strahlendem Weiß, das Meereis glänzt und glitzert mit tausenden Schmelztümpeln und dazwischen wir, in einem schmalen Riss aus tief blauem Wasser. Das Meer ist spiegelglatt, alles ist still. Und nachdem man kurz vorher nur wenige Wissenschaftler gesehen hatte (die Nachtschichtler schlafen, alle anderen nutzen die Pause in den Arbeiten und sind unter Deck, in den Laboren oder auf ihrer Kammer), ist es auf einmal richtig voll. Die Nachtschichtler werden geweckt (Grönland und Sonne will sich niemand entgehen lassen), die Kameras, Sonnenbrillen und Ferngläser ausgepackt, und wir genießen die spektakuläre Aussicht.

Etwas Vergleichbares habe ich noch nie gesehen. Das Eis ist beeindruckend, man kann gar nicht richtig erfassen, wie groß alles ist. Und nach dem vielen Nebel strahlen jetzt alle mit der Sonne um die Wette. Die meisten Wissenschaftler bleiben an Deck und gönnen sich einen Mini-Urlaub, arbeiten kann man schließlich noch, wenn wir wieder Nebel haben! Die Stimmung ist ausgelassen. Und es kommt noch besser. Als wir die erste Verankerung bergen, entdecken wir einen Eisbären, er ist zwar recht weit entfernt, aber ich habe ein Fernglas. Ein Kollege schaut hindurch und quietscht, „Oh mein Gott, ist der flauschig!“, ich muss schmunzeln. Der Eisbär sieht wirklich flauschig aus, und tapsig. Er hat einen dicken Hintern und ist anscheinend völlig unbeeindruckt von dem riesigen Schiff, das da in sein Territorium eingedrungen ist. Er sieht ab und an zu uns hinüber, aber sonst liegt er herum, läuft gähnend ein Stück, wälzt sich im Schnee, steht wieder auf und gibt uns allen die Gelegenheit, ihn ausgiebig zu betrachten.

Dickes, fettes Walross auf der Backbord Seite! Die Zähne sind beeindruckend. Foto: N. Goldbach

Wir haben gerade die letzte erreichbare Verankerung geborgen, da kommt der erste Offizier mit einer Kamera aus der Brücke auf das Deck gestürzt und deutet aufgeregt nach unten. Direkt neben der Polarstern liegt ein Walross auf der Scholle, die wir gerade umrunden! Das ist so außergewöhnlich, dass der zweite Offizier sogar eine Durchsage macht: „Ein dickes, fettes Walross auf der Backbordseite! A big, fat walrus on the portside!“ und kurz darauf die nächste Durchsage: „Wal direkt voraus! Whale, straight ahead!“, so viel Glück kann man gar nicht haben!

Nach einem aufregenden Tag falle ich abends glücklich in die Koje, erschöpft von den vielen Eindrücken und müde von der Sonne. Morgen haben sicher alle Sonnenbrand, aber es hat sich gelohnt! Die Arbeit, der Nebel und der Schlafmangel sind vergessen. An manchen Tagen haben wir den schönsten Arbeitsplatz der Welt.

 

Blick auf eine Insel vor Grönland, direkt neben dem 79N Gletscher. Auch wenn die Gletscher und das Eisschild auf der Insel sehr groß erscheinen sind sie im Vergleich zum Eisschild und den Gletschern auf Grönland winzig klein. Foto: C. Rohleder

Leser:innenkommentare (4)

  1. Claudia

    Toller Bericht, vielen Dank dafür und noch ganz viel weitere solch faszinierende Erlebnisse!

  2. Andrea Mrozeck

    Hallo zusammen!
    Ich bin ein großer Grönlandwal-Fan und interessiere mich besonders für die so gut wie ausgestorbene Spitzbergen-Population.
    Da es sich meiner Meinung nach auf dem Wal-Foto um einen Vertreter dieser Art handelt, würde ich sooo gerne wissen, ob sie noch mehr von ihnen gesehen haben, auf dieser oder anderen Fahrten?
    Gruß an alle,
    Andrea Mrozeck

    1. Folke Mehrtens

      Hallo Andrea Mrozeck
      Zum Blogbericht gabe es eine Liste mit den angetroffenen marinen Säugern, die die professionellen Walbeobachter während der Expedition identifiziert haben (in Klammern die Anzahl der Individuen): Bartrobbe (7), Dolphin (6), Finnwal (8), Schweinswal (5), Klappmützenrobbe (15), Zwergwal (7), Blauwal (1), Orca (9), Eisbär (9), Ringelrobbe (14), Pottwal (7), nicht identifizierte Wale: 9.
      Beste Grüße aus dem AWI-Pressteam!

      1. Andrea Mrozeck

        Hallo Folke Mehrtens,
        vielen Dank für die schnelle und detailreiche Antwort!
        Nochmals Gruß an alle,
        Andrea

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