Hänsel und Gretel (Teil I)

Blog #15_01

Es sind keine Brotkrumen, die auf dem Schiffsdeck verstreut zu dem Geschwisterpaar führen. Zahlreiche dünne Rinnsale ziehen sich wie Adern über die Planken. Mit jeder Sekunde pulsiert mehr und mehr Wasser durch sie hindurch –  als würde der Schiffskörper plötzlich zum Leben erwachen. Mein Auge wandert die Wasserwege stromaufwärts, zurück zur Quelle. Und da stehen sie, frisch emporgeholt aus den Tiefen des Pazifischen Ozeans: die beiden Märchenfiguren der Gebrüder Grimm. Aus einem metallenen Käfiggestell blicken sie mir entgegen. Allerdings fordert sie hier niemand auf, ihre Finger durch die Gitterstäbe herauszustrecken. Stattdessen tanzt munter ein Schlauch über ihre Köpfe und besprudelt sie mit frischem Nass.

Die in situ-Pumpen Hänsel und Gretel.

„Die in situ-Pumpen dem Salzwasser länger als unbedingt nötig auszusetzen, würde eine stark beschleunigte Korrosion bedeuten“, erklärt mir Mine Banu Tekman, Doktorandin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. „Es sind empfindliche, wertvolle Geräte, um die man sich kümmern muss.“ Bereits während der letzten Probenahmen hatte ich fasziniert beobachten können, wie sie ihren Schützlingen mit einem fast schon zeremoniellen Anstrich jedes Mal mehrere Stunden Zuwendung zuteilwerden lässt. „Auf der SONNE habe ich hier mit Annika Jahnke eine unglaublich enthusiastische Mitstreiterin!“, entfährt es Mine mit Verweis auf die Koordinatorin unseres MICRO-FATE Projekts. Wenn man den beiden bei der Arbeit zuschaut, kann man sich in der Tat nur schwer des Eindrucks erwehren, dass sich hier zwei wissenschaftliche Soul-Mates gefunden haben: Zwei Paar Hände gelenkt von einem Geiste. Bevor die Salzkristalle antrocknen können, spülen sie nach jeder Probenahme die in situ-Pumpen zunächst von außen mit salz- und partikelfreiem Wasser ab. Sodann schicken sie das vorgereinigte Wasser in mehreren Pumpdurchläufen auch durch das Innere der Geräte, um abschließend jeden einzelnen Baustein noch einmal mit einem Tuch akribisch zu polieren. Besondere Aufmerksamkeit widmen die Wissenschaftlerinnen dabei den Dichtringen, die den elektronischen Teil der batteriegetriebenen Pumpen vor eindringendem Salzwasser schützen. „Ein einziges Haar und sie sind tot“, unterstreicht Mine hier die Bedeutung einer minutiösen Hingabe.

Mine Banu Tekman (AWI Bremerhaven, Vordergrund) und ihre UFZ-Kollegin Annika Jahnke (Koordinatorin des MICRO-FATE Projekts) beim Reinigen der in situ-Pumpen.

„Tot“ – das Wort hallt durch meinen Kopf und ich blicke auf die an den Filterköpfen angebrachten Klebestreifen: Hänsel und Gretel. Ihre Namen erhielten die beiden von ihren Eigentümern, Mines Kolleg*innen vom Bremer Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie (MPI-MM). Seit 2016 stellt das MPI-MM dem AWI jedes Jahr die in situ-Pumpen für Probenahmen zur Verfügung. „Ich liebe die Namen! Zudem sind sie super praktisch“, erklärt Mine. „Die in situ Pumpen sind ziemlich komplexe Geräte, jede von ihnen mit spezifischen Eigenschaften, separaten Geräteboxen, Ersatzbauteilen. Beim Austausch mit anderen Wissenschaftlern ist es daher sehr hilfreich, wenn man über einfache Namenszuweisungen klar differenzieren kann, über welches Gerät man gerade spricht.“

Dabei war vor einigen Jahren beileibe nicht abzusehen, dass Mines Lebensweg sie einmal beruflich auf ein deutsches Forschungsschiff führen würde. Ursprünglich studierte die in Istanbul aufgewachsene Türkin Technische Informatik, arbeitete dann als Software-Programmiererin und schließlich als regionale Vertriebsleiterin für Hewlett Packard. Auslöser für den Berufswechsel war ihre im Jahr 2006 entdeckte Tauchleidenschaft. „Ich bin dafür durch die ganze Welt gereist und war fasziniert davon, alles über die Flora und Fauna der Unterwasserwelt zu erfahren. Ich machte meinen Tauchlehrerschein und wollte zunächst sogar in diesem Bereich arbeiten.“ Da sie im beruflichen Alltag einer Tauchlehrerin ihre Leidenschaft jedoch gefährdet sah, entschied sich Mine letztlich zu einem Berufswechsel, der Ozeane und wissenschaftliches Arbeiten miteinander verband. „Während des Studiums im Bereich Meeresumwelt gelangte ich über meine Masterarbeit dann ans AWI in Bremerhaven“, erinnert sich Mine. „Ich hatte eine Veröffentlichung der dort tätigen Meeresbiologin Melanie Bergmann über ihre Makroplastikforschung in der Arktis gelesen und mich daraufhin am Institut beworben.” Inzwischen betreut Melanie Mines Doktorarbeit und zählt ebenfalls zu unserer Forschergruppe auf der SONNE.

Und wie kommt Mine nun dazu, auf der SONNE speziell zum Themenkreis Mikroplastik zu arbeiten, möchte ich wissen. „Alles begann damit, dass ich mit Melanie in der Arktis zu Makroplastik auf dem Meeresgrund geforscht habe“, erinnert sich Mine. Bei sogenanntem Makroplastik handelt es sich um größere Plastikstücke; in Abgrenzung dazu steht der Begriff Mikroplastik, der sich auf Kunststoffteilchen mit einem Durchmesser von weniger als 5 Millimetern bezieht. Die AWI-Studien, von denen Mine berichtet, fanden dabei seit 1999 jährlich im sogenannten „HAUSGARTEN“ statt, einem arktischen Tiefseeobservatorium, das aus 21 Messstationen in der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen besteht (LTER – Long-Term Ecological Research – Observatorium). „Im Rahmen einer Langzeitstudie haben wir dort an einer Stelle einen mehr als 20-fachen Anstieg von Müll am Meeresboden beobachtet. In 2500 Metern Tiefe!“ Ergaben die Messungen an der nördlichsten, in der Eisrandzone des Hausgartens gelegenen Messstation N3 im Jahr 2004 hochgerechnet noch 346 Müllteile pro Quadratkilometer, waren es zehn Jahre später 8.082. „In Bezug auf die Sedimente hatte Melanie im Rahmen des Arktischen Langzeit-Observatoriums FRAM seit 2015 bereits regelmäßig Messdaten erhoben. Was fehlte, waren hingegen entsprechende Angaben über das Plastikvorkommen in der darüber befindlichen Wassersäule“, beschreibt Mine die Situation rückblickend. „Aus diesem Grund haben wir angefangen, in der Arktis mit den in situ-Pumpen zu arbeiten und wollen im Rahmen der SONNE-Expedition nun Vergleichbares auch für den Pazifischen Ozean erkunden.“

Während wir uns unterhalten, sind die Wasseradern zu stattlichen Flussläufen angewachsen, so zahlreich, dass sich auf dem Deck ein regelrechtes Delta gebildet hat. In der angrenzenden Seenplatte spiegelt sich nun der Himmel. In der Reflexion beginnen sich vor meinem geistigen Auge beide Elemente zu vereinen. Vögel und Wolken fliegen durchs Wasser – Fische schwimmen durch die Luft. Die fliegenden Fische, die unser Schiff seit geraumer Zeit begleiten, visionäre Grenzgänger und Mittler zwischen Realität und Fantasie. Die Perspektivverschiebung, deren erste Symptome ich kurz nach unserem Ablegen aus Vancouver verspürte – der Horizont, eine in Auflösung befindliche Trennlinie, schlummernde Schiffe in einem vereinten Ort beider sonst klar getrennter Sphären … – scheint weiter voranzuschreiten.

Ich muss an unsere interdisziplinäre Wissenschaftlergruppe denken. Bestehend zum einen aus den Plastikforschern des MICRO-FATE Projekts, deren Blick auf die Welt von der Meeresoberfläche nach unten gerichtet ist; auf der anderen Seite die Kolleg*innen vom MORE-2 Team, deren Aufmerksamkeit sich gen Himmel richtet, um die Welt von Aerosolen – ein Gemisch aus festen und flüssigen Schwebeteilchen – und Treibhausgasen zu erkunden. Inwieweit bietet die Durchmischung beider Welten auf unserer SONNE-Expedition beiden Forscherlagern wohl die Möglichkeit, die Grenze der Wasseroberfläche in die jeweils andere Richtung zu durchbrechen, um im benachbarten Element Inspiration für die eigene Arbeitsmethodik abzuleiten?

Eine weitere Spiegelung in unserer Seenplatte bringt mich zurück in die Realität: ein an einem Seil hängender Koloss von einem Stahlgestell. Bei dem darin verschraubten ferngesteuerten Kamera-System OFOS (Ocean Floor Observation System) handelt es sich just um denselben Gerätetypen, mit dem Mine und Melanie in der Arktis den deutlichen Anstieg von Makroplastik aufgedeckt hatten. Auch auf der SONNE steht unseren Wissenschaftlerinnen ein derartiges Tiefseeauge zur Verfügung, das bei seinem Einsatz ca. 1,5 Meter über dem Meeresgrund schwebt. Wichtigstes Element ist hier eine Stillkamera, die alle 20 Sekunden ein Standbild macht. Dabei werden immer drei rote Laserpunkte auf den Meeresgrund projiziert – jeweils im Abstand von 40 Zentimetern. Dies erlaubt es den Wissenschaftlerinnen die Größenverhältnisse auf dem Foto und damit den „Fingerabdruck“ vom Meeresboden richtig einzuordnen. Insgesamt mehr als 5.000 dieser Fotos hat Melanie noch während der Expedition im Computerraum der SONNE ausgewertet. „Für mich ist das Ergebnis schon überraschend“, lautet das erste Fazit der Meeresbiologin. „Viele Manganknollen, bizarre Lebensformen, aber erstaunlich wenig Plastik. Gerade im Gebiet des Great Pacific Garbage Patches hatte ich persönlich mehr Sichtungen erwartet, besonders weil wir in unserem Untersuchungsgebiet in der Arktis immer den meisten Müll am Meeresboden sehen.“ Auch nach unserer Expedition wird die Forschenden eine zentrale Frage damit wohl weiter umtreiben: Wo genau im Ozean bleibt unser ganzer Plastikmüll?

Meine Aufmerksamkeit schwenkt zurück zu unseren beiden in situ-Pumpen. Als mir Mine die genaue Funktionsweise der beiden erklärt, wird mir klar, dass das Märchen der Gebrüder Grimm auf der SONNE eine dynamische Verwandlung erfahren hat. Neben Hänsel und Gretel gehören noch zwei weitere Protagonisten zum insgesamt vier in situ-Pumpen umfassenden Forschungsprojekt: Hulda und Jimmy (…).

Leser:innenkommentare (1)

  1. Hänsel und Gretel (Teil II)

    […] wissenschaftliche Ziel beim Einsatz der in situ-Pumpen besteht darin, Menge und Art von Plastikpartikeln in unterschiedlichen Tiefen der Wassersäule zu […]

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