Ein LEGO-Baukasten für Ozeanographen

Routiniert lässt sich der rechte Zeigefinger auf die linke Maustaste fallen. Zeitgleich schnappen in 5.060 Metern Tiefe an der CTD-Rosette die Deckel der Probenahme-Flaschen Nummer 1 bis 6 zu. Gefangen! Die anvisierte Wassersäule hatte bei dieser Form des maritimen Kidnappings nicht die Spur einer Chance …

Andreas Welsch, Techniker vom Institut für Meereskunde der Universität Hamburg

Besagter Zeigefinger gehört zu Andreas Welsch, Techniker vom Institut für Meereskunde der Universität Hamburg. Auf unserer Expedition ist er zuständig für den Betrieb, die Wartung und Instandhaltung der von den Wissenschaftler*innen mitbrachten Instrumente. Ursprünglich ist Andreas gelernter Energieanlagenelektroniker. „Ich hatte aber keine Lust, jeden Tag in der Werkstatt zu sitzen – morgens zu stempeln, abends zu stempeln. Also habe ich mich zum Elektrotechniker ausbilden lassen.“ Eines Tages flatterte ihm dann vom  Arbeitsamt ein exotisch anmutender Vermittlungsvorschlag in den Briefkasten: „Seetauglich, tropenfest und belastbar“ sollten die Kandidaten sein. „Das fand ich klasse!“ Inzwischen sind es 27 Jahre, die er beim Institut für Meereskunde angestellt ist. Merian, Meteor, Polarstern, Poseidon, alte SONNE, neue SONNE, … –  eine vollständige Liste aller deutschen und ausländischen Forschungsschiffe, auf denen Andreas die Weltmeere seitdem bereist hat, könnte einen eigenen Blog füllen.

Vom Rechner aus hat Andreas in den letzten zweieinhalb Stunden den Weg der CTD-Rosette vom Deck der SONNE bis zur ersten Probenahme-Station in 5.060 Metern Wassertiefe begleitet. Knapp 80 Meter baumelt die Tiefseesonde nun über dem Bett des Ozeans. „Bei Bedarf könnten wir sie sogar auf 10 Meter an den Meeresgrund heranfahren“, erklärt Andreas. „Bei einer Drahtlänge von insgesamt 5.500 Metern ist diese Genauigkeit schon beachtlich.“ Derartige Feinarbeit in der Tiefsee erfolgt immer in enger Kommunikation mit dem Windenführer und ist Dank des an der Sonde befestigten Altimeters möglich, das wie ein Echolot den Abstand zum Boden misst. Per Daten-Live-Stream ist Andreas auch immer der erste, der etwaige Ausreißer in den Messungen mitbekommt und dann in Absprache mit dem wissenschaftlich-technischen Dienst des Schiffes (WTD) und den Wissenschaftler*innen entscheiden kann, wie im Notfall zu verfahren ist. Muss die Fahrt der Meeressonde etwa abgebrochen und der Sampler zurück an Deck geholt werden? Derartige Manöver waren auf unserer Expedition bisher zum Glück nicht erforderlich –  im Gegenteil: Andreas ist mit der Performance sehr zufrieden. „Wir hatten bei den Messdaten nur eine Abweichung von 1/1000.“ Damit spielt er auf einen Vergleich der zwei Sensoren an, die an der Sonde parallel und unabhängig voneinander die gleichen Messungen durchführen. Eine Ausnahme vom reibungslosen Betrieb der CTD gab es aber dennoch –  und sie zeigte mir anschaulich, wie in einem solchen Fall die an Bord befindlichen Expertisen ineinandergreifen: „Auf meinem Screen poppte plötzlich eine allgemeine Warnmeldung auf, dass der Datenaustauch an der CTD Rosette nicht richtig funktioniere“, beschreibt Andreas die Situation. „Bei einer solch‘ unspezifischen Angabe fischt man bei der Diagnose natürlich erst einmal im Dunkeln. Die Kollegen vom WTD haben auf Verdacht zunächst einmal einige Sensoren ausgetauscht – aber ohne Erfolg.“ Bei diesem arbeitsteiligen Herangehen an die Problemlösung muss man wissen, dass es sich bei der CTD-Rosette um eine Meeressonde handelt, die nicht von den Wissenschaftler*innen selbst mitgebracht wurde, sondern zur Grundausstattung der SONNE gehört. Damit ist für ihre Funktionsfähigkeit, Wartung und Kalibrierung der Sensoren der wissenschaftlich-technische Dienst (WTD) verantwortlich, der Teil der ständigen Schiffsbesatzung ist. Auf unserer Fahrt gehören hierzu Miriam Plöger, Jörg Leppin und Matthias Grossmann. „Wir stellen die Geräte zur Verfügung, machen erforderlichenfalls eine Einweisung, aber für den Einsatz des Geräts sind dann die Wissenschaftler*innen verantwortlich und müssen insoweit ihren eigenen Experten mitbringen“, erläutert Matthias die Aufgabenverteilung. Unser Mitbringsel in diesem Sinne ist Andreas. Wenn bei Warnmeldungen der Fehler wie im vorliegenden Fall nicht ohne weiteres geortet werden kann, steht der WTD natürlich mit Rat und Tat zur Seite. „Das Problem war letztlich ein angeknicktes Einleiterkabel“, erinnert sich Jörg. „Man muss sich vor Augen führen, dass in 5.500 Metern Tiefe im Vergleich zur Erdoberfläche der 550-fache Druck auf das Gerät ausgeübt wird,“ ergänzt Andreas. „Das ist schon eine enorme mechanische Belastung.“ Zu einer wirklichen Schwachstelle würden die Kabel in der Regel aber erst dann werden, wenn an die Meeressonde wie bei uns noch eine ganze Reihe weiterer Geräte angehängt würden, präzisiert Jörg. „In diesem Fall kommt ordentlich Zug auf die Drähte und ihre Verbindungsstellen.“ Bei dieser Gelegenheit erschließt sich mir auch endlich, um was für eine Meeressonde es sich bei der klangvollen CTD-Rosette eigentlich handelt. Man kann sie sich wie einen LEGO-Baukasten vorstellen, bei dem es eine Grundkonstruktion gibt, an die dann je nach Belieben der Forschenden weitere Bausteine angedockt werden können:

Die Basis der CTD-Rosette (Conductivity, Temperature, Depth) besteht aus einem zylinderförmigen Gestell, das mit Sensoren für Temperatur, Leitfähigkeit und Wasserdruck bestückt ist, aus denen die Grundparameter Dichte, Salzgehalt und Wassertiefe errechnet werden. Zwei Pumpen sorgen dabei für einen kontinuierlichen Wasserfluss durch die Sensoren, damit punktuelle Ausreißermessungen vermieden werden. Um die Sensoren herum sind im Kreis 24 Probenflaschen angeordnet, jeweils mit einem Fassungsvermögen von 10 Litern. „Die Flaschen sind beim Herablassen der Sonde oben und unten offen, damit das Wasser auf dem Weg in die Tiefe ohne Widerstand durch sie hindurchströmen kann“, erklärt mir Andreas. „Der Wasserdruck würde sie sonst zerbersten lassen.“

 

Entsprechend beginnt man mit der Probenahme immer auf der tiefsten Station. „Anschließend halten wir auf dem Weg an die Wasseroberfläche an den von den Wissenschaftlern gewünschten Tiefen – in unserem heutigen Fall sind das nach den 5.060 Metern der ersten Station noch 2.500, 300 und schließlich 50 Meter, wobei jeweils 6 Probenahme-Flaschen ausgelöst werden“.

 

 

 

Dieses Grundgerüst der CTD-Rosette ist auf der SONNE noch durch folgende Bausteine erweitert worden: zwei Sauerstoffsensoren, einen kombinierten Fluoreszenz- und Trübungssensor sowie einen PAR-Sensor. Der PAR-Sensor (Photosynthetically Active Radiation) misst die photosynthetisch aktive Strahlung, eine elektromagnetische Strahlung im Bereich des Lichtspektrums, die phototrophe Organismen hauptsächlich bei der Photosynthese nutzen. Das Fluorometer erfasst die Chlorophyll-Fluoreszenz. Nachdem der Sensor auf dem Weg nach unten in der Wassersäule eine erhöhte Fluoreszenz identifiziert hat, können auf dem Weg nach oben somit gezielt Proben aus diesem Wassersegment genommen werden. Dies ist etwa für unsere bereits kennengelernten UFZ-Biolog*innen Mechthild Schmitt-Jansen, Christoph Rummel und Stefan Lips interessant.

Hinsichtlich der Bord-Unit, an welche die Sensoren der CTD-Rosette ihre Daten übermitteln, wissen mir die Mitarbeiter des  WTD noch von einer Skurrilität zu berichten:  „Die CTD mit den Wasserkranzschöpfflaschen ist in der Meeresforschung so ein bisschen wie ein VW-Käfer. Diese Geräte werden weltweit eingesetzt und gelten als besonders zuverlässig“, erzählt Matthias. In der Tat haftet dem konservativen Umgang mit Blick auf einmal bewährte technische Elemente eine gewisse Poesie an: „Die Anlage ist auf dem technischen Stand von 2013, verfügt für die Datenaufzeichnung aber immer noch über ein Tape-Audio-Interface“. Den  Begriff muss mir Jörg erst einmal erklären. „Im Prinzip könnte man die Daten wie mit einem Kassettenrecorder aufzeichnen – ein Verfahren wie früher bei der Datasette des Commodore 64.“ Datasette und C64 erlebten ihre Blütezeit in den 1980er Jahren …

Von einer Datasette, geschweige denn einer ausgeklügelten Meeressonde wie der CTD-Rosette hätte Carl Chun wohl nicht zu träumen gewagt. Ich lese in meiner Kajüte gerade die Geschichte der ersten deutschen Tiefsee-Expedition, die 1898 unter der Leitung des Leipziger Zoologen Chun auf dem Schraubendampfer Valdivia in See stach. Wie lange wohl die Wissenschaftler*innen der SONNE brauchen werden, um nach Beendigung der Expedition die gesammelten Proben zu begutachten? Chun beklagte sich damals über die mangelnde Arbeitsdisziplin einiger Forscher bei der Bearbeitung der gesammelten Proben. 13 Jahre nach Abgang der Valdivia hätte sich ein Teil der Bearbeiter das gesammelte Material noch nicht einmal angeschaut“ (vgl. Rudi Palla: VALDIVIA. Die Geschichte der ersten Deutschen Tiefsee-Expedition. Galiani Verlag Berlin, Berlin 2016, S. 211)

 

Eine umfassende Foto-Dokumentation der Expedition siehe: https://www.instagram.com/roman.kroke/

Leser:innenkommentare (1)

  1. Die Spinne und ihr Netz

    […] Da trifft es sich hervorragend, dass uns just in diesem Moment das Signal erreicht, dass die CTD-Rosette von ihrer Reise aus der Tiefsee zurückgekehrt ist. Dies bedeutet: frisches Futter für Marimar! […]

Kommentar hinzufügen

Verwandte Artikel