Die Spinne und ihr Netz

Hellblaue Fäden spinnen sich um den olivgrünen Schalenkoffer, ziehen sich durch Ösen und Öffnungen, entlang seiner Kanten und Rundungen. Ein kleines wissenschaftliches Heiligtum, umspannt von einem kunstvoll gewebten Netz. Wie eine Schatztruhe ist der Koffer halb geöffnet, erlaubt uns so einen Blick in sein Inneres. An mir vorbei schnellt plötzlich ein Spinnenarm, um sodann eine zylinderförmige Kartusche hervorzuziehen …

Elisa Rojo Nieto, Wissenschaftlerin am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) Leipzig.

„Das allererste, was wir nach dem Ablegen aus Vancouver gemacht haben, war, unser Gerät sorgfältig an Wand und Boden zu befestigen”, erklärt mir Elisa Rojo Nieto, Wissenschaftlerin am UFZ in Leipzig. „Denn sollte es inmitten des Pazifiks einmal so richtig stürmen, würde uns das Gerät ansonsten kreuz und quer durch den Raum hüpfen”. Was die eigene wissenschaftliche Karriere angeht, war die Umweltwissenschaftlerin hingegen in keinster Weise an einem einzigen Ort festgezurrt. Schon während ihres Studiums an der Universität von Cadíz im Fachgebiet Meereswissenschaft verbrachte sie ein Jahr auf den Kanarischen Inseln, im Rahmen der anschließenden Promotion dann längere Zeit in Dänemark (Roskilde) und Frankreich (Bordeaux). Seit September 2017 arbeitet Eli nun am UFZ Leipzig im Department Zelltoxikologie. „Nach der Promotion hatte ich beruflich zunächst einen Exkurs in den Bereich Technologie-Beratung und Management – aber mir wurde schnell klar, dass ich unbedingt wieder zurück in die reine Wissenschaft und Forschung wollte“, erinnert sie sich rückblickend. Und was hat sie dann im Anschluss gerade ans UFZ geführt? „Ehrlich gesagt waren es weder Deutschland noch Leipzig, die den entscheidenden Ausschlag für diese Luftveränderung gaben“, erklärt Eli schmunzelnd. „Ich wollte vor allem mit Annika Jahnke zusammenarbeiten“, erläutert sie mit Verweis auf die Koordinatorin unseres MICRO-FATE Projekts. „Sie ist eine der führenden Experten im Bereich meines damaligen Forschungsprojekts zu sogenannten Passivsammlern.“
Auf die Funktionsweise von Passivsammlern werde ich am Ende des heutigen Blogs noch einmal gesondert eingehen, da sie anschaulich darstellt, wie sich Wissenschaftler*innen ein und derselben Fragestellung mit unterschiedlichen Methoden nähern. Dies gilt gerade auch im Zusammenspiel mit Elis aktuellem Gerät, das mir durch das blaue Spinnennetz hindurch schon eine ganze Weile herausfordernd entgegenblickt. Ein weißer Klebestreifen springt mir ins Auge: „MARIMAR“ steht dort mit rotem Stift geschrieben. „So heißt sie!“ Eli lacht, als sie meinen verwunderten Blick sieht. „Auf Spanisch heißt ihr Name so viel wie Mary of the Sea. Wenn du jeden Tag rund um die Uhr mit einem Gerät verbringst, beginnst du, eine persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen. Gerade in den ersten Tagen der Expedition mussten wir zusammen so manche Probleme bewältigen. Sie musste erst einmal mit dem hohen Salzgehalt des Meerwassers fertig werden. Dabei wurde schnell klar: Marimar hat einen starken Charakter. Sie ist eine Kämpferin!“

Elisa Rojo Nieto (Mitte) geht mit ihrer UFZ-Kollegin Annika Jahnke (Projektkoordinatorin des MICRO-FATE Projekts) noch einmal die unterschiedlichen Wassertiefen für die Probenahmen mit der CTD-Rosette durch.
Gestatten Sie, mein Name ist Mary of the Sea!

Eli erklärt mir, dass es für diesen Geräte-Typ das allererste Mal ist, dass er über einen derart langen Zeitraum kontinuierlich in Salzwasser eingesetzt wird. „Die Salinität hat Marimar gerade am Anfang ein bisschen verrückt gemacht.“ Zwar gibt es an den Sensoren Schrauben, mit denen die Wissenschaftler*innen die Empfindlichkeit des Geräts entsprechend des Salzgehalts der Umgebung einstellen können. In der Praxis stellt diese Ausbalancierung aber noch einmal eine ganz andere Herausforderung dar: „Unser Techniker Jörg Watzke und Dipl.-Ing. Jörg Ahlheim vom UFZ haben uns bei dieser Aufgabe über Satellitentelefon tatkräftig unterstützt. Da Herr Ahlheim das Gerät auch mit entwickelt hat, hatten wir so Zugang zu wertvoller Expertise“, beschreibt Eli die Zusammenarbeit bei der Problemlösung. „Auch die praktischen Erfahrungswerte der beiden UFZ-Kollegen beschränken sich jedoch auf den Einsatz des Geräts im Süßwasser, so dass wir hier auf der SONNE am Ende auch auf uns selbst angewiesen sind und wahre Pionierarbeit leisten können.“ Eine getroffene Maßnahme besteht nunmehr etwa darin, das Gerät zwischen den Probenahmen so viel wie möglich mit Süßwasser zu durchspülen, da der Salzgehalt die Leitfähigkeit des Wassers erhöht sowie die Korrosion beschleunigt. Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit an zahlreiche Gespräche mit der Schiffscrew, die mir mit Blick auf das Ausbessern der Roststellen an Bord ebenfalls ein Lied vom hohen Salzgehalt in Wasser und Luft singen konnten. „Matrosengold“ nennen sie die Oxidationsstellen, sprechen davon, dass der Stahl „Blüten treibt“. Dabei lassen sie aber keine Zweifel daran aufkommen, dass sich hinter diesem poetischen Anstrich ein nimmer endender Kampf gegen die auf hoher See extrem beschleunigten Transformationsprozesse verbirgt. Die Erfahrung zeigt: Wenn man das Schiff bis hinten einmal durchgängig von Rost befreit hat, kann man am nächsten Tag gleich wieder vorne anfangen!

Nachdem mir Marimar mitsamt ihrer Launen nun schon einmal persönlich vorgestellt wurde, möchte ich jetzt gerne mehr über ihre Funktionsweise erfahren. Da trifft es sich hervorragend, dass uns just in diesem Moment das Signal erreicht, dass die CTD-Rosette von ihrer Reise aus der Tiefsee zurückgekehrt ist. Dies bedeutet: frisches Futter für Marimar! Und so nimmt mich Eli bei der Hand, damit wir zusammen einmal alle Phasen der Probenahme von Anfang an durchlaufen können.

Im Hangar wartet auf uns schon Cedric Abele, Masterstudierender im Fach Ökotoxikologie und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Department Zelltoxikologie des UFZ. Er assistiert Eli im Rahmen unserer MICRO-FATE Expedition und war mit ihr zusammen auch für die „Taufe“ des LV-SPE (Large-Volume Solid Phase Extraction) Geräts verantwortlich. So heißt Marimar mit bürgerlichem Namen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die LV-SPE dazu dient, organische Schadstoffe aus dem Wasser zu extrahieren und deren jeweilige Art und Menge in Bezug auf ein bestimmtes Wasservolumen zu bestimmen. Hierzu gehören zum Beispiel bestimmte Flammschutzmittel (PBDEs), Isolier- und Kühlflüssigkeiten (PCBs), Pestizide oder polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK). Letztere entstehen bei der unvollständigen Verbrennung von organischem Material (Kohle, Heizöl, Kraftstoff, Holz, Tabak, …) entstehen. Zwar können sie durchaus auch natürlichen Ursprungs sein (Waldbrände); der überwiegende Anteil der PAK stammt heute jedoch aus vom Menschen verursachten Prozessen. Da zahlreiche PAK nachweislich krebserregend sind, ist z. B. der bei der Verkokung von Steinkohle anfallende Teer für die Verwendung im Straßenbau oder in Dachpappe seit 1984 verboten.

Die CTD-Rosette hat uns in ihren insgesamt 24 Probenahme-Flaschen à 10 Liter heute jeweils 6 Flaschen aus 5060, 2500, 300 und 50 Metern empor befördert. Damit stehen Marimar in Bezug auf jedes Segment der Wassersäule bis zu 60 Liter zur Extrahierung von Schadstoffen zur Verfügung. Ergänzt wird dieses Tiefenspektrum noch durch ein Volumen von 100 Litern an Oberflächenwasser, das mit Hilfe der schiffseigenen Kreiselpumpe gewonnen wird. Folglich umfasst die Beprobung  durch das LV-SPE Gerät an den meisten geographischen Messstationen unserer Expedition insgesamt fünf unterschiedliche Wassertiefen. Stellen wir uns einmal Aufwand und Kosten vor, wenn alle diese Wasservolumina ins Labor nach Leipzig hätten transportiert werden müssten! Gerade hierin liegt ein besonderer Vorteil des LV-SPE Geräts, das vom UFZ Leipzig in Partnerschaft mit der MAXX Mess- und Probenahmetechnik GmbH entwickelt wurde: Es ermöglicht den Wissenschaftler*innen, die Schadstoffe aus großen Wasservolumina direkt vor Ort anzureichern.

In einem ersten Schritt zapfen Eli und Cedric aus den Flaschen der CTD-Rosette nun das Wasser des ersten Wassersegments ab.

Elisa Rojo Nieto mit ihrem UFZ-Kollegen Cedric Abele beim Abzapfen der Wasserproben von der CTD-Rosette.

Sodann beginnt, was Eli als „kleine Pilgerreise“ mit sportlichem Touch beschreibt: Der Transport der Wassereimer von der CTD-Rosette zum blau umsponnenen Schalenkoffer. Im Schiffslabor angekommen wird zunächst einmal Marimars „Saugrüssel“ in den Wassereimer gehängt. Am Ende des Schlauchs befindet sich ein erster Vorfilter, durch den verhindert wird, dass größere Partikel wie Algen in die Maschine gelangen und sie verstopfen. Als nächstes gibt Eli über die programmierbare Geräte-Steuerung das genaue Volumen der aktuellen Wasserprobe ein. In dem damit eingeleiteten automatisierten Extraktionsprozess liegt ein weiterer Vorteil des LV-SPE Geräts: „Größere Wasservolumina können im Feldeinsatz beprobt werden, ohne dass eine ständige Beaufsichtigung erforderlich ist“, erklärt mir die Umweltwissenschaftlerin. Durch den Schlauch gurgelt das Wasser weiter zur ersten Station im Schalenkoffer: ein zweiter Filter, der nunmehr auch alle Schwebstoffe von der Weiterreise abhält, die größer als 0,65 μm (Mikrometer) sind. Von dort kann ich verfolgen, wie das Wasser in eine Glaskammer sprudelt, die mit ihrem Fassungsvermögen von 0,5 Litern als Messinstrument für das insgesamt beprobte Wasservolumen dient. „In der Kammer befinden sich zwei Sensoren“, beschreibt mir Eli die Funktionsweise. „Der erste erkennt den Moment, in dem die Kammer voll ist, der zweite veranlasst, dass die 0,5 Liter weiter zur letzten Station, der Extraktions-Kartusche, gespült werden.“ Sobald die Kammer auf diese Weise leer gepumpt ist, wird aus dem Eimer bereits die nächste 0,5 Liter Portion angesaugt. Während dieser aneinander gereihten An- und Absaugvorgänge gibt Marimar eigentümliche Schnorchel-Geräusche von sich. Ausdruck von Glückseligkeit oder außer Atem? Jedenfalls beginnt sie in der Extraktions-Kartusche nun gewissenhaft mit der Anreicherung der Schadstoffe.

Bei dem in der Kartusche vonstattengehenden Anreicherungsprozess machen sich die Wissenschaftler*innen zu Nutze, dass auch Schadstoffe ihre Vorlieben haben. So wie manche von uns ein Erdbeereis ohne Zögern gegen eine Kugel Stracciatella eintauschen würden, lassen auch Schadstoffe ihre wässrige Umgebung links liegen, sobald ihnen zum Andocken eine Oberfläche präsentiert wird, die eher ihren Neigungen entspricht. Das auf diese Weise von den Schadstoffen beraubte Wasser hat damit seine Schuldigkeit getan und kann direkt wieder dem Pazifischen Ozean übergeben werden. Bis das gesamte, jeweils in 0,5 Liter Häppchen aufgeteilte Wasservolumen einer Proben-Tiefe den Extraktionsprozess durchlaufen hat, dauerte es einige Stunden. Bevor Eli und Cedric dann ein anderes Segment der Wassersäule beproben, wechseln sie die Kartusche. Jede Kartusche lässt sich somit einer spezifischen Wassertiefe und einem genauen geographischen Ort auf unsere Expeditionsroute zuordnen. „In Leipzig waschen wir die Schadstoffe mithilfe geeigneter Lösungsmittel dann wieder aus der Kartusche aus, um sie nachfolgend einer chemischen Analyse zu unterziehen, in der wir die verschiedenen Schadstoffe identifizieren und deren Konzentrationen bestimmen wollen“, beschreibt mir Cedric den abschließenden Arbeitsschritt.

Die zukünftigen Ergebnisse zu Schadstoffkonzentrationen in spezifischen Wassersegmenten werden zwar schon für sich isoliert ihren wissenschaftlichen Forschungswert haben. Faszinierend ist für mich aber, wie diese Ergebnisse darüber hinaus noch in Resonanz mit anderen auf der SONNE durchgeführten Projekten treten sollen. An dieser Stelle komme ich auf die eingangs erwähnte Messmethode sogenannter Passivsammler zurück. Das Konzept der Passivsammler ist auch deswegen bemerkenswert, weil mit ihm ein gewisser Perspektivwechsel einhergeht: Plastikpartikel werden hier nicht in erster Linie als „Umweltverschmutzung“ betrachtet, sondern vielmehr gezielt als Hilfsmittel eingesetzt, um Schadstoffkonzentrationen in ihrer Umgebung zu bestimmen. Die Messmethode beruht auf der Annahme, dass sich zwischen beiden mit Blick auf die Schadstoffkonzentration ein Gleichgewicht einstellt, sofern der Plastikpartikel nur lange genug der Umgebung ausgesetzt ist – egal ob diese im konkreten Fall aus Wasser, Sediment oder Biota (Organismen wie Fisch, Muscheln) besteht. Das Polymer wird hinsichtlich der Anzahl und Art der Schadstoffe ein Spiegel seiner Umgebung, ein sogenanntes Chemometer. Da eine Reihe von Wissenschaftler*innen auf der SONNE aus genau denselben Wassersegmenten Plastikpartikel filtern, aus denen Marimar Schadstoffe extrahiert, bietet dies eine interessante Grundlage für zukünftige Vergleichsanalysen beider Messmethoden. Wird der Fußabdruck der jeweiligen Chemikalie, wie wir ihn in den als Passivsammlern benutzten Plastikpartikeln finden, demjenigen entsprechen, den wir mittels des LV-SPE Geräts auf dem Wege der Extraktion gewinnen?

„Ich will mal versuchen, euch zu beschreiben, wie mir zumute ist (…). Wenn eine Spinne ihr Netz webt, wirft sie dann nicht die Hauptfäden vor sich aus und klettert selbst hinterher? Der Hauptweg meines Lebens erstreckt sich ein gutes Stück vor mir aus und reicht bis in eine andere Welt. (…) ich (…) baue bereits mit an einer Gesellschaft nach der jetzigen.“ Diese Worte finden sich in einem Brief der holländischen Jüdin Etty Hillesum vom 3. Juli 1943, in dem sie die Beweggründe, ihr Tagebuch zu schreiben, mit einem Bild erklärt (Das denkende Herz – die Tagebücher von Etty Hillesum, 1941-1943. 20. Auflage, Rowohlt Tachenbuch Verlag, Oktober 2007, S. 210.): Sie vergleicht diese Arbeit mit einer Spinne, die ihr Netz webt. Die Metaphern der Spinne und des Spinnennetzes sind in der Regel eher negativ besetzt – gängige Assoziationen sind eine Bedrohung, eine Falle oder die Gefahr, verstrickt zu werden. Auch die meisten von Ihnen werden Spinnen wohl eher als ekelige Zeitgenossen empfinden. Vielleicht können wir das Marimar umspannende blaue Netz im Zusammenspiel mit den Worten Etty Hillesums einmal zum Anlass nehmen, unseren Blick auf die mannigfaltigen Spinnen unserer Welt ein Stück weit zu verrücken: Die Spinne als ein schöpferisches Wesen, als Baumeister eines (Gedanken-) Werkes, das nicht allein in der eigenen Arbeit seinen Abschluss findet. Damit die auf der SONNE begonnene Forschungsarbeit die bestmöglichen Früchte hervorbringt, werden auch die Wissenschaftler*innen unserer Pazifik-Expedition darauf angewiesen sein, dass andere Menschen ihre Arbeit in unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft weiterspinnen. Über diesen Blog möchte ich hierzu einen bescheidenen Beitrag leisten und auch Ihnen als Lesern mit diesen Zeilen einen Faden zuwerfen. In der Hoffnung, dass Sie ihn in der einen oder anderen Art aufzugreifen vermögen, um zukünftigen Generationen eine Welt zu hinterlassen, in der Spinne, Mensch und sonstige Natur neben und miteinander ihren lebenswerten Platz finden.

Leser:innenkommentare (1)

  1. Nina

    Danke für diesen tollen Expeditionsbericht. Sehr interessant.

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