Wir und die Mammuts

… der Kohlestift sinkt auf das sepiafarbene Zeichenpapier und ich schaue durch das Fenster. Der Ausblick ist immer wieder aufs Neue schwindelerregend. Ich versuche den Boden zu erkennen. Wie winzige Ameisen huschen die Wissenschaftler*innen herum, tragen ihre Wasser- und Plastikproben geschäftig kreuz- und quer über das Schiffsdeck; einem unsichtbaren Prinzip folgend, das sich mir nach der intensiven Auseinandersetzung mit ihrem Verteilungsschlüssel eigentlich erschließen müsste. Ich versuche, Melanie Bergmann zu erspähen, Meeresbiologin am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI). Aber ohne ein Adlerauge ist es von hier oben schlichtweg unmöglich, den Ameisen eine genaue Identität zuzuordnen. Und so mache ich mich auf den Weg, den ich seit Beginn unserer Expedition mehrere Male täglich hoch und runter laufe. Die enge Wendeltreppe hinab mit ihren unzähligen Stufen. Jede von ihnen bringt mich der Welt der Forschenden ein Stück näher. Meine über das Treppengeländer gleitende Hand hatte in all den Jahren genügend Zeit, ein Gespür für das Material zu bekommen, aus dem der Turm meines Schaffensortes gebaut ist. Unglaublich, dass aus den Stoßzähnen der Elefantenvorfahren derartige Himmelsstürmer gebaut werden können. Bei dem Gedanken an die regelrechte Studien-Schlacht, in der sich Wissenschaftler*innen mit Theorien zum Aussterben der Mammuts überbieten, muss ich schmunzeln. Hat nun die Klimaerwärmung nach der letzten Eiszeit die Großsäuger zugrunde gerichtet oder war gemäß der „Overkill-Theorie“ der Mensch mit seinem Jagdtrieb dafür verantwortlich? Beides passt auf eigentümliche Weise zum heutigen Thema …

Melanie Bergman – Wissenschaftlerin, Mutter und Umweltaktivistin.

„Manchmal wird uns Forschenden vorgeworfen, dass wir zu lange in unserem Elfenbeinturm geblieben und mit unseren Ergebnissen zur Klimakrise nicht früh und laut genug an die Öffentlichkeit getreten sind.“ Melanie sitzt schon eine ganze Weile neben mir, aber erst jetzt höre ich sie klar und deutlich. „Obgleich sich viele Kolleginnen und Kollegen bereits seit vielen Jahren zu diesem Thema engagieren, veranschaulicht es, dass das Wissenschaftlermodell des reinen Informationsbrokers ausgedient hat.“ Ich bin gedanklich noch immer bei meinem Mammut, als mir Melanie von Extinction Rebellion erzählt, einer weltweiten Bewegung, die sich mit friedlichen Mitteln des zivilen Ungehorsams gegen die Klimakrise und das sechste Massenaussterben stemmt. Ein Massenaussterben, in dem wir uns gerade befinden – das fünfte und letzte in der 4,5 Milliarden Jahre alten Geschichte der Erde – ereignete sich vor etwa 66 Millionen Jahren, als mit den Dinosauriern 70 bis 75 Prozent aller Tierarten ausstarben. Die Meeresbiologin engagiert sich in der kürzlich gegründeten Bremer Gruppe und bei Parents for Future.

Ich habe mich mit Melanie heute zu diesem Gespräch verabredet, weil wir nach dem World Oceans Day morgen den zweiten internationalen Aktionstag während unserer Expedition erleben werden: Die Bewegung Fridays For Future hat für den 21. Juni zum ersten zentralen internationalen Klimastreik in Aachen aufgerufen – die Stadt liegt direkt am rheinischen Braunkohlerevier, dem größten CO2-Emmitenten in Europa. Die ursprünglich von der inzwischen für den Friedensnobelpreis nominierten jungen Schwedin Greta Thunberg inspirierten „Schulstreiks für das Klima“ sind inzwischen zu einer globalen Bewegung gewachsen. Sie wird allein in Deutschland von über 26.000 Scientists For Future unterstützt. In diesem Sinne hat Melanie vorgeschlagen, dass auch die Wissenschaftler*innen an Bord der SONNE eine Solidaritätsbekundung für den Aktionstag in die Welt hinaussenden. Während unserer Forschungsreise sehen wir in Form von Plastikmüll in der Tat jeden Tag die Spuren unseres Lebenswandels. Aber nicht nur diejenigen unter uns, die zur Plastikverschmutzung im Pazifik arbeiten, haben ihre  inhaltlichen Anknüpfungspunkte zur aktuellen Klimadebatte. Die Forschenden des Max-Planck-Instituts für Meteorologie (MPI-M) messen die Gesamtmenge der Aerosole in der Atmosphäre, um Vergleichsdaten für eine verlässlichere Satellitenfernerkundung und präzisere Klimamodelle zu liefern. Das gleiche Ziel verfolgen die beiden Wissenschaftler vom Institut für Umweltphysik der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, nur dass sich ihre Messungen auf Treibhausgase beziehen. Und so verwundert es nicht, dass die meisten eifrig mitmachen, gemeinsam an Bannern basteln und die Pinsel schwingen. Am Ende des Tages werden sie dafür mit einem Regenbogen belohnt.

Bei der Aktion selbst ist das Protestplakat eingerahmt von Plastikfässern und anderem Plastiktreibgut, das wir im Laufe unserer Expedition aus dem Ozean gefischt haben. Melanie unterstreicht den Zusammenhang zur Klimaerwärmung: „Nach aktuellen Schätzungen könnte unser Umgang mit Plastik, insbesondere durch Produktion und Verbrennung, 14 Prozent unseres noch verbleibenden CO2-Budgets bis 2050 aufbrauchen.“ Auch der Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) hat in seinem Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung von 2018 noch einmal eindringlich vor den irreversiblen Folgen der Erderhitzung und der damit zusammenhängenden starken Zunahme von Hitzeextremen, Starkniederschlägen, Stürmen und Dürren sowie einer weiteren Erhöhung des Meeresspiegels gewarnt hat.

„Vielleicht hat es den Dürresommer im letzten Jahr zusammen mit dem alarmierenden IPCC Report gebraucht, damit das Thema endlich in den Köpfen der Menschen ankommt.“ Für die morgige Kundgebung in Aachen werden 20.000 Demonstrierende erwartet. „Ich möchte nicht, dass meine Kinder um Essen und Wasser bangen müssen“, unterstreicht die zweifache Mutter. „Dass sie mit Kriegen und mit den politischen Folgen von Flüchtlingsströmen leben müssen, die noch viel dramatischer sein werden, als alles, was wir bisher hatten. Dass sie nur noch einen Bruchteil der Tier- und Pflanzenwelt, die wir heute kennen, erleben werden – mit unabsehbaren Folgen auch für unser Überleben. Und deshalb setze ich mich dafür ein.“ Ob das politisches Engagement Teil ihres Selbstverständnisses als Wissenschaftlerin sei oder von ihr eher neben dem Beruf in die Privatsphäre verortet würde, frage ich sie. „Das kann man letztlich schwer voneinander trennen, ich bin ja eine Person. Im Zusammenhang mit meiner Forschung zu Plastik und Mikroplastik im Meer, trage ich natürlich in erster Linie meine Daten vor, die für sich selbst sprechen. Denn wir messen beispielsweise in der Arktis enorm hohe Konzentrationen von Mikroplastik und sehen, dass der Müll am Meeresboden der arktischen Tiefsee über die Zeit immer weiter angestiegen ist. Häufig werde ich bei Veranstaltungen oder Interviews aber auch gefragt, was man denn dagegen tun kann. Und dann sind wir sofort in einer politischen Diskussion, die eigentlich ja nicht mein primäres Thema ist. Aber das Thema ist eben ein politisches und deswegen beziehe ich dazu auch Stellung.“ Als Jugendliche war Melanie in der Grünen Jugend, in der Schule als Schülersprecherin aktiv, als Studentin anschließend stellvertretende AStA-Vorsitzende. „Als es um die berufliche Orientierung ging, lag mir daran, die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Meeresökologie zu untersuchen, zunächst im Bereich der Fischerei und später im Rahmen unserer Langzeituntersuchungen in der Arktis, um die Folgen der Klimakrise zu erforschen.“

Da ich mich mit meinem Blogschreiben manchmal wie ein überforderter chinesischer Tellerjongleur fühle, dem jeden Tag neue Scheiben zum narrativen Ausbalancieren um die Ohren fliegen, ist der 21. Juni und damit auch der Fridays for Future Klimastreik in Aachen inzwischen Vergangenheit. Tatsächlich kamen den Veranstaltenden zufolge 40.000 Schüler*innen, Eltern, Erwachsene, Studierende, Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen, Künstler*innen, … aus mindestens 16 Ländern zusammen. Am nächsten Tag demonstrierten noch einmal 8.000 von ihnen friedlich im Rheinischen Braunkohlerevier für den Erhalt von Dörfern und einen Kohleausstieg bis spätestens 2030. „Das Gruselige an der Debatte ist, dass man manchmal das Gefühl hat, die Wissenschaft würde nicht mehr ernst genommen“, gibt Melanie einen kleinen Einblick in ihr Seelenleben. „Da ist inzwischen oft von Klimahysterie die Rede, obwohl die Dringlichkeit der menschgemachten Klimakrise wissenschaftlicher Konsens ist. Wertvolle Zeit wird mit unsinnigen Diskussionen vergeudet, denn wir müssen innerhalb von 11 Jahren rigoros umsteuern, um das Pariser Klimaschutzabkommen überhaupt noch einhalten zu können. Vielen ist noch immer nicht klar, dass die Folgen – anders als bei anderen Umweltproblemen – unumkehrbar sind und dass jedes Jahr, das wir verlieren, umso drastischere Maßnahmen in der noch verbleibenden Zeit nach sich ziehen werden.“

Die Metapher des elfenbeinernen Turms hat seinen Ursprung im biblischen Hohelied 7:5 des Alten Testaments: „Dein Hals ist wie ein Turm aus Elfenbein“, lobpreiste Salomo dort die Schönheit einer Frau. In der christlichen Tradition gilt der Elfenbeinturm daher als Symbol edler Reinheit. Bemerkenswert, wenn wir dies mit seinem heute doch betont negativen Begriffsverständnis vergleichen: Der Elfenbeinturm als ein Ort, an dem sich vor allem „weltabgeschiedenen Intellektuelle“ wie Forschende, Politiker*innen oder Künstler*innen aufhalten würden, die einzig für ihre Aufgabe leben und den Blick für die gesellschaftlichen Folgen ihres Handelns aus dem Blick verloren haben. Erlauben wir es uns, diese beiden scheinbar unvereinbaren Bilder etwas aufzubrechen. Ein jeder von uns hat, glaube ich, seinen persönlichen Elfenbeinturm. Und daran ist beileibe nichts Verwerfliches, wenn wir ihn zunächst einmal als Metapher für einen geistigen, emotionalen Ort der Abgeschiedenheit und Unberührtheit von der Welt verstehen. Einen Ort, den wir brauchen, um unsere Energien aufzuladen, um uns ungestört in eine spezialisierte Aufgabe zu vertiefen, komplexe Ideen zu entwickeln oder aber auch einfach nur, um unserem Leben in der globalisierten Welt des Informationszeitalters hin und wieder ein Gefühl der Überschaubarkeit zu geben. Eines sollte aber nicht erst der Aktionstag von Fridays for Future klar gemacht haben. Niemand von uns kann es sich weiter leisten, in seiner Blase hübsch eingezäunt vor sich hinzuleben. Weder allein mit Blick auf das Hier und Heute, auf sich selbst und die Menschen, die er schätzt, noch mit Blick auf die zukünftigen Generationen. Angesichts der Erhitzung des atmosphärischen muss sich auch das gesellschaftliche Klima verändern. Jeder kann in seinem persönlichen Wirkkreis einen entscheidenden Teil dazu beitragen, damit wir zusammen mit Zuversicht diese gemeinsame Herausforderung in Angriff nehmen. Dazu brauchen wir nicht nur aber auch Spezialist*innen mit klugen Ideen. Es sollte daher vielleicht weniger um eine Abschaffung der Elfenbeintürme gehen sondern vielmehr darum, dass wir alle eine sportlichere Haltung zu ihnen entwickeln … – denke ich mir, während ich die ersten Treppenstufen meines Turmes in Angriff nehme, auf dem Weg zurück in meine als Atelier umfunktionierte Schiffskajüte.

[Text und Fotos geben nur die politische Meinung der ausdrücklich genannten bzw. abgelichteten Personen wieder].

Eine umfassende Foto-Dokumentation der Expedition siehe: https://www.instagram.com/roman.kroke/

Leser:innenkommentare (1)

  1. Hänsel und Gretel (Teil I)

    […] in der Arktis gelesen und mich daraufhin am Institut beworben.” Inzwischen betreut Melanie Mines Doktorarbeit und zählt ebenfalls zu unserer Forschergruppe auf der […]

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