Miteinander (Teil II)

(…) Mechthild, Christoph und Stefan sind wie gesagt nicht die einzigen Wissenschaftler*innen auf der SONNE, die es nun auf die Boje abgesehen haben, um ihr jeweiliges Forschungsvorhaben endlich in Angriff zu nehmen. Zum Glück verläuft es hier an Deck nicht wie in der Savanne, wo sich ausgehungerte Geier um die attraktivsten Kadaverstücke streiten. „Es war wichtig, sich zu Beginn auf einen Verteilungsschlüssel zu verständigen, der klar regelt, wer wann welche Proben bekommt. Denn jeder hier ist mit seiner eigenen Forschungsfrage an Bord gekommen und dementsprechend auch auf spezifisches Material angewiesen, um diese Frage beantworten zu können“, erläutert die Umweltchemikerin und MICRO-FATE-Koordinatorin Annika Jahnke vom UFZ Leipzig.

Umweltchemikerin und MICRO-FATE-Koordinatorin Annika Jahnke

Nun mögen für Sie als Leser die Informationen über diesen Verteilungsschlüssel auf den ersten, vielleicht sogar auf den zweiten Blick nicht zwingend vor Sexappeal strotzen. Trotzdem habe ich mich letztlich dazu entschlossen, Ihnen im heutigen Blog diesen Verteilungsschlüssel einmal im Zusammenhang darzustellen, da er aus meiner Sicht ein wichtiges Puzzleteil zum Verständnis der verzahnten Arbeitsabläufe hier an Bord darstellt. „Bei uns hat sich ein Schlüssel herauskristallisiert, bei dem zunächst unterschieden werden muss, ob es sich bei den Fundstücken um größere Plastikobjekte wie die Boje handelt oder um kleinere Fragmente, wie wir sie zum Beispiel in den Katamaran-Proben finden,“ erklärt mir Annika. Bei großen Plastikstücken haben sich die Forschenden darauf geeinigt, dass sich zunächst diejenigen Wissenschaftler*innen bedienen dürfen, die wie Annika und ihre Kollegin Elisa Rojo Nieto im Bereich der chemischen Analytik arbeiten. „Für uns ist die Masse des Plastikobjekts ein Knock-Out Kriterium, da sich nur in größeren Stücken ausreichend viele Schadstoffe für unsere Messungen befinden.“ Ein weiteres Vorauswahlrecht bei größeren Plastikstücken steht einem zweiten Forschungsprojekt von Annika zu, das sie zusammen mit ihrem UFZ-Kollegen Christoph Rummel durchführt. „In den seltenen Fällen,  dass bei den Plastikstücken anhand von Aufschriften oder Produktstempeln eine Identifizierung des ursprünglichen Objekts möglich erscheint, sind diese ebenfalls für uns reserviert“, erklärt die MICRO-FATE-Koordinatorin. „Wir werden dann eine dem Fundobjekt möglichst nahekommende Version des Originalprodukts nachkaufen, um vergleichende Studien anstellen zu können: Welche ursprünglichen Additive sind im gealterten Plastikfragment noch enthalten? Oder umgekehrt: Welche chemischen Substanzen haben sich während der Reise durch den Ozean neu an das Medium angedockt?“

 

Tatjana Gaudl, Studentin der Biotechnologie und angewandten Ökologie, forscht auf dem Schiff für ihre Masterarbeit am UFZ Magdeburg.

Auch bei kleineren Plastikpartikeln orientiert sich der entwickelte Verteilungsschlüssel bestmöglich nach den Bedürfnissen der jeweiligen Wissenschaftler*innen: Hier reisen die Partikel als allererstes zu den Forschenden, die im mikrobiologischen Bereich kultivierende Arbeiten vornehmen, also insbesondere das Wachstum des Biofilms beobachten möchten. Hierzu gehört neben Lynn Moldaenke noch Tatjana Gaudl, die auf dem Schiff für ihre Masterarbeit forscht und zum Department Seenforschung des UFZ-Standorts in Magdeburg gehört – ihren Arbeitsbereich werde ich in einem der kommenden Blog-Beiträge näher vorstellen.

Dass die Fundobjekte in diesem Fall so schnell wie möglich zu Lynn und Tatjana wandern, hat mit dem hübschen Begriff „Falschpositive“ zu tun –  einem von Christoph Rummels Lieblingsworten. Hierbei geht es weniger darum, dass in allem Bösen auch ein guter Kern schlummern mag. „Je länger die Proben der Umgebung ausgesetzt sind, desto größer ist das Risiko der Kreuzkontamination durch unsteriles Arbeitsbesteck oder dass – zum Beispiel durch Husten – humane Bakterienstämme der bearbeitenden Person auf die Kolonie gelangen“, erklärt mir Christoph. „Dies würde die Proben für kultivierende Experimentierstrecken unwiederbringlich verfälschen.“ In der Verteilungskette Lynn und Tatjana unmittelbar nachfolgend sind nun logischerweise diejenigen Wissenschaftler*innen platziert, für deren Forschungsergebnisse diese Art von „Falschpositiven“ zumindest nicht ganz so dramatisch wäre, die aufgrund der Forschung an lebendigen Organismen aber dennoch auf einen möglichst schnellen Zugriff auf die Probe angewiesen sind.  Hierzu gehören zusammen mit Christoph unsere zu Beginn kennengelernte Biologin Mechthild Schmitt-Jansen sowie der Hydrobiologe Stefan Lips, die zur Ökosystemleistung des Biofilms forschen,  also zum Beispiel an dessen Fotosyntheserate interessiert sind.

Eine Sonderrolle im Verteilungsschlüssel der Plastikproben nehmen schließlich die Mitarbeiter des UFZ-Departments Analytik ein. Unseren Drohnenpiloten Philipp Klöckner haben wir bereits kennengelernt. Eine kurze Hommage an seine männliche Honigbiene sei an der Stelle erlaubt: Einen Tag nachdem sie uns famose Luftbildaufnahmen vom Einsatz des Katamarans geliefert hatte, stürzte sie sich beim nächsten Einsatz aufgrund eines technischen Defekts am Mainboard in bester Kamikaze-Manier in die pazifischen Fluten und ward nicht mehr gesehen –  R.I.P.

UFZ-Doktorand Robby Rynek beim Filtrieren einer Wasserprobe,
die im Department Analytik auf Anzahl, Art und Größe von Polymer-Partikeln
untersucht werden wird.

Zusammen mit seinem UFZ Kollegen, dem Doktoranden Robby Rynek, bekommt Philipp bei Proben in der Regel immer an allererster Stelle einen Cut vom Plastik-Buffet. Für die spätere Analyse im UFZ wird sie sodann umgehend bei -20 Grad tiefgefroren. Dabei geht es den beiden Forschern, ganz anderes als unseren Biolog*innen, mitnichten um die Vermeidung des nachträglichen Einschleichens neuer Bakterienkulturen. Auf ihre Proben dürften theoretisch unbegrenzt viele Menschen ungehemmt abhusten, vernichten die beiden durch das Tieffrieren, spätestens jedenfalls durch die enzymatische Behandlung der Probe am UFZ doch ohnehin alles, was im Wasser so kreuchen und fleuchen mag. Ihre sensible Seite offenbaren die Doktoranden demgegenüber mit Blick auf Falschpositive in Form von Plastikpartikeln, die auch in der Laborluft enthalten sein können und das Messergebnis empfindlich beeinflussen könnten. Hierzu können synthetische Textilfasern genauso gehören wie der Abrieb, der beim Öffnen eines Kunststoff-Schraubverschlusses entstehen kann. Das Team aus dem Department Analytik – hierzu gehört als drittes Musketier noch der in Leipzig gebliebene Stephan Wagner – widmet sich nämlich der Bestimmung der Anzahl, Art und Größe von Plastikpartikeln in einem bestimmten Wasservolumen. In Anbetracht dieses Forschungsziels ist auch verständlich, warum sich aus dieser Probe keiner der anderen Forschenden zuvor irgendwelche Plastik-Rosinen herauspicken darf; die Anzahl der Partikel würde verfälscht und fremde Partikel könnten in die Probe gelangen. Das Anliegen, durch eine frühe Positionierung der Analytiker im Verteilungsschlüssel eine unverfälschte Bilanzierung von Anzahl, Art und Größe der Plastikpartikel sicherzustellen, ist auch für alle anderen Wissenschaftler*innen auf dem Schiff von immenser Bedeutung: Unabhängig von ihrer spezifischen Forschungsfrage ist diese Angabe stets eine wichtige Referenzgröße. Gleichzeitig bekommen Philipp und Robby häufig noch einen weiteren Platz ganz am Ende der polymeren Nahrungskette: Nachdem die anderen Forscher*innen ihre biologischen Experimente an den lebendigen Mikroorganismen abgeschlossen habe, landen die besiedelten Plastik-Partikel regelmäßig bei den beiden UFZ-Doktoranden, damit sie den jeweiligen Wissenschaftler*innen später Informationen über die genaue Plastikart liefern können.

Sollten Sie nach diesem wilden Ritt durch den verästelten Verteilungsschlüssel der Plastikproben nicht ganz so sicher sein, ob sie sich gerade falsch-positiv oder doch eher korrekt-negativ fühlen, so seien Sie beruhigt. Mir geht es bei dem Versuch, mich in die ausdifferenzierten Arbeitsprozesse der Forschenden hineinzuarbeiten manchmal ähnlich.

Leser:innenkommentare (3)

  1. Doris Wolst

    Lieber Roman, liebe Sonne-Mannschaft (und damit meine ich alle),
    ich lese von Anfang an jeden Beitrag mit großer Freude und Neugier und freue mich über die schönen Bilder. Es ist fast so, als wäre man mit an Bord (mit dem Vorteil, nicht seekrank zu werden). Es ist so lebendig und bildhaft geschrieben, dass selbst der „wilde Ritt durch den verästelten Verteilungsschlüssel der Plastikproben“ mit scheinbar wenig Sexappeal Spaß macht. Dafür allen ein großes Dankeschön – dir Roman für’s Schreiben und Fotografieren, jedem Einzelnen an Bord für’s Mitmachen, Erzählen, Sich-fotografieren-lassen.
    Weiterhin gute Fahrt, gutes Gelingen und – wie es bei der Seefahrt wohl heißt: immer eine handbreit Wasser unterm Kiel!
    Ganz viele Grüße aus dem UFZ in Leipzig – Doris

  2. Roman Kroke

    Vielen Dank für Deine Zeilen Doris!
    Es freut mich wirklich sehr, dass es uns gelingt, Euch auf diese Weise an unserem Abenteuer teilhaben zu lassen.
    Mit der untergehende Sonne im Augenwinkel
    grüßt aquatisch impregniert
    Roman

  3. Wir und die Mammuts

    […] einem unsichtbaren Prinzip folgend, das sich mir nach der intensiven Auseinandersetzung mit ihrem Verteilungsschlüssel eigentlich erschließen müsste. Ich versuche, Melanie Bergmann zu erspähen, Meeresbiologin am […]

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