Himmlische Marionette(n) – Teil II

Nur wenige Meter vom Katamaran entfernt, haben an Deck soeben die Wartungsarbeiten an der Traverse vom gigantischen Heckgalgen begonnen. Das Kommando hat hier Jürgen Kraft, den alle aber nur „Stöpsel“ nennen. Als Bootsmann befehligt er die Decksmannschaft bei allen seemannschaftlichen Aufgaben und ist verantwortlich für die Wartung und Instandhaltung der technischen Ausrüstung. Auf den Ursprung seines Spitznamen angesprochen, lächelt er. „Der ist schon so alt, das weiß ich selbst nicht mehr.“

Seit 25 Jahren arbeitet „Stöpsel“ inzwischen auf Forschungsschiffen. Vorher hatte er die Weltmeere schon auf Bullcarriern bereist, große Frachtschiffe, 45.000 Tonner. „Als mit der Reederei 1994 Schluss war, hat mich die Heuerstelle Hamburg dann auf die alte SONNE vermittelt.“ Nach 21 Jahren hat der Bootsmann dann mit der Ablösung durch die neue SONNE auch das Deck gewechselt. „Der Komfort ist hier natürlich bedeutend besser“, gesteht er zu. „Größere Kammern, die ganze Arbeitserleichterung durch die Kräne … Aber das Schiff ist auch komplizierter geworden. Wenn früher etwas nicht funktionierte, hat man mal kurz mit dem Hammer draufgehauen und es lief wieder. Heute ist alles elektronisch gesteuert, da kann viel kaputt gehen. Hier sind überall so viele Sensoren drauf verbaut, 12.000 Stück glaub‘ ich. Die Winden sind untereinander vernetzt, wenn da eine ausfällt, dann geht nichts mehr. Aber es macht auch mehr Spaß“, stellt er klar. „Es ist jeden Tag eine neue Herausforderung.“ Als ich ihm von unserer anfänglichen Seekrankheit erzähle, kann er es sich nicht verkneifen: „Seegang? Welcher Seegang? Das ist für uns Ententeich hier“, um dann versöhnlich hinzuzufügen „Das ist nur ‘ne Kopfsache. Von uns wird keiner mehr seekrank.“ Jedes Jahr ist er zwischen 7 und 8 Monaten auf See. „Den Rest der Zeit bin ich zu Hause. In Thüringen, da hab ich ‘nen kleines Häuschen, da kümmere ich mich dann drum.“

Wie für die Wissenschaftler ist es auch für sein Team das erste Mal, dass sie die Aussetzung eines Katamarans zu bewerkstelligen haben. Als ich ihn darauf anspreche, muss er schmunzeln. „Wir sind hier ja nun auf einem Tiefseeforschungsschiff …“ – und macht eine kurze Pause. Gewöhnlich arbeitet er mit 12 Tonnen schweren Meeresbohrern in der Größe von 20 Fuß Containern. „Der Zugdraht ist ja fast schwerer als der Katamaran. Das ist Mickey-Maus Forschung“, fügt er mit einem Augenzwingern hinzu, nur um gleichzeitig unmissverständlich klar zu machen, mit welcher Ernsthaftigkeit er sich auch dieser Aufgabe angenommen hat. „Zuerst mussten wir sicherstellen, dass die Wasserproben der Wissenschaftler nicht durch Abrieb vom Draht verfälscht werden. Daher haben wir als Tauwerk V4A Nirosta Stahl aufgezogen“, erklärt er. „Der hat nur in seiner Mitte eine dünne Seele mit einem ganz kleinen Plastikanteil. Wenn der Draht unter Zug kommt, wird die Seele zusammengedrückt und gibt dann ein klein wenig Fett in die anliegenden Drahtlitzen ab. So schmiert sich der Draht selbst, um nicht von innen durchzurosten.“ Ein weiterer Punkt, den Jürgen Kraft beim Umgang mit dem Katamaran im Auge hat, betrifft den Arbeitsschutz. „Damit sich niemand verletzt, haben wir bei der Drahtführung durch die Rollenklüse darauf geachtet, dass er sich nicht zu sehr hin und her bewegt. Jeder Draht hat eine gewisse Bruchlast“, erklärt er mir. „Beim Aussetzen achten wir daher darauf, dass er nicht zu stark geknickt wird, da dies die schwächste Stelle ist.“ Gerade bei dem für den Katamaran verwandten Nirosta-Draht sei hier besondere Vorsicht geboten. „Normale Drähte fangen vor dem Brechen an zu singen, die summen dann so leicht. Das Fatale beim Niro-Draht ist, der knackt dir mit einem Mal weg, ohne Vorwarnung.“

„Wenn alle Stricke reißen, bist Du keine Marionette mehr.“ Ümit Özsaray (Autor und Aphoristiker)

Im komplexen Marionettenspiel um den Katamaran möchte ich noch einen weiteren Strippenzieher ausfindig machen und steige hinauf in den Elfenbeinturm der SONNE: Auf der Kommandobrücke treffe ich Tilo Birnbaum, seines Zeichens 1. Nautischer Offizier.

Chiefmate Tilo Birnbaum im Austausch der MICRO-FATE-Koordinatorin Annika Jahnke vom UFZ in Leipzig.
Foto: Philipp Klöckner

„Um unsere Rolle beim Einsatz des Katamarans zu begreifen, ist zunächst einmal wichtig, dass streng zwischen der Fahrt durchs Wasser und der Fahrt über Grund zu trennen ist; denn wenn durch die Strömung von vorne Kraft aufs Schiff ausgeübt wird, kommst du nicht so schnell über Grund wie übers Wasser“, stellt Tilo klar. „Du fährst zum Beispiel durchs Wasser, stehst aber im Verhältnis zum Grund auf der Stelle. Verstehst du das?“ Er sieht meinen angestrengten Blick. Es ist 5 Uhr morgens und der Kaffee hat meine Synapsen noch lange nicht erreicht. Geduldig fertigt Tilo eine Skizze an. Mit Bildern geht alles besser. „Die optimale Geschwindigkeit beim Aussetzen des Katamarans haben wir, wenn das Schiff von vorne mit 2 Knoten durchs Wasser angeströmt wird“, fährt Tilo fort. „In diesem Fall haben wir dann schon ausreichend Tempo, damit sich der Katamaran zum einen zur Seite wegdreht, andererseits aber auch nicht zu schnell achtern rausgeht.“ Hinter dem Anliegen, den Katamaran nicht hinter dem Forschungsschiff sondern in deutlichem Abstand seitlich versetzt zu platzieren, steht folgender Gedanke: Zum einen können sich im Fahrtwasser zum Schiff gehörige Partikel befinden, die das Ergebnis der Probenahme verfälschen würden. Zum anderen besteht in unmittelbarer Nähe der Bugwelle das Risiko einer künstlichen Durchmischung des Oberflächenwassers und damit einer  Verzerrung der natürlichen Wassersäule.

Für die Kommandobrücke ist mit Blick auf die Einflussnahme bei der Katamaran-Fahrt ferner von Bedeutung, dass die Wissenschaftler an Stationstagen alle Unterwassersonden in der Regel an ein und demselben geographischen Ort in die Tiefe schicken möchten. Auf diese Weise können sie sich durch das ergänzende Zusammenspiel aller Messinstrumente ein differenziertes Datenprofil von ein und derselben Wassersäule zusammenpuzzeln. „Dafür parken wir das Schiff dann so ein, das wir bei 0 Knoten über Grund liegen“, erläutert Tilo. Verstanden! Ein unumstößliches Gesetz aller Stationstage ist, dass die verschiedenen Instrumente nie zeitgleich oder überlappend sondern immer streng nacheinander eingesetzt werden. Da der Katamaran seinen Auftritt nicht selten in der Mitte aller eingesetzten Sonden hat, stellt er Tilo und seine Kollegen vor eine besondere Herausforderung. Schließlich entfernen wir uns während der ersten 45-minütigen Katamaran-Fahrt von der für die anderen Messinstrumente maßgeblichen Referenzstation. „Die Wissenschaft möchte die Forschungszeit an den Stationstagen so effektiv wie möglich nutzen. Wir versuchen, sie dabei gemäß unserer Expertise nach besten Kräften zu unterstützten“, unterstreicht Tilo. „Die fünf Minuten, die nach Beendigung der ersten Katamaran-Fahrt an der Bordwand gebraucht werden, um das Netz zu wechseln, nutze ich zum Wenden des Schiffs. Bei der sich dann anschließenden zweiten Fahrt steuere ich also schon wieder zurück in Richtung auf unsere ursprüngliche Referenzstation. Würde ich diese Strecke geradeaus weiter fahren, und erst anschließend wenden, um dann mit Vollgas zurückfahren, würde ich 20-25 Minuten länger brauchen. Das wäre eine Verschwendung wertvoller Forschungszeit.“ Zum Abschluss richtet Tilo mein Augenmerk noch auf ein weiteres Detail: „Auf der Rückfahrt fahre ich natürlich nicht die identische Strecke sondern vielmehr in einem Winkel versetzt zum Ausgangspunkt zurück. Ansonsten würden wir ja die bereits zuvor abgefischten Wassermassen noch einmal abfahren.“

Als ich mich schon innerlich zurücklehnen möchte, in der Erleichterung, so kurz vor Fertigstellung meines Textes mit Tilo noch einen der entscheidenden Marionettenspieler identifiziert zu haben, holt der Chiefmate noch einmal Luft. „All das, was ich dir jetzt erzählt habe, ist aber – ganz wichtig“ – Tilo zückt den Bleistift und macht eine kurze Pause – „WETTERABHÄNGIG  – drei Ausrufezeichen!“ Sagt’s nicht nur, sondern notiert das Wort gefolgt von den drei „!“ bedeutungsschwer auf unserer Skizze.

„Der Mensch ist eine Marionette der Natur, die wahrnimmt und denkt und sich törichterweise einbildet, jemand zu sein.“ Buddha

 

 

 

Leser:innenkommentare (2)

  1. Antje

    Moin aus dem hohen Norden,

    ich bin gerade auf diesen interessanten Blog gestoßen und lese ihn mit Hingabe. Allerdings konnte ich mir als Seefahrerin bei dem Wort „Bullcarrier“ ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sicher sind Bulkcarrier gemeint. Unter Bulk-Ladung versteht man trockene Massengüter, auch Schüttgüter genannt. Damit sind z.B. loses Getreide, Kohle, Kalk, Eisenerz-Pellets und ähnliche Stoffe gemeint. Natürlich gibt es auch Frachter, die Bullen transportieren. Diese werden dann jedoch eher Live-Stock-Carrier oder eben Viehtransporter genannt 😉

    Ich wünsche euch noch eine schöne Reise und immer ne Handbreit Wasser unterm Kiel! Auch das ist natürlich – WETTERABHÄNGIG! :-p

    Liebe Grüße, Antje

  2. Roman Kroke

    Liebe Antje,
    vielen Dank für Dein humorvolles Feedback. Ich habe herzhaft gelacht. In der Tat paddelte ich bisher eher im künstlerischen denn dem seefahrerischen Milieu. Mein Unterbewusstsein dachte daher vielleicht vogelfrei-assoziierend an Bull-TERRIER, die ähnlich wie große Frachtschiffe einen respekteinflößenden Eindruck hinterlassen können.
    Grüße vom Pazifik an Dich und die norddeutschen Bullen,
    Roman

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