Brauchen wir mehr Nähe oder mehr Distanz zur Natur?

Distelfalter

Mein Sohn kommt aufgeregt aus der Schule nach Hause und berichtet, er habe an der Straßenbahn-Haltestelle ganz viele Schmetterlinge gesehen. Groß und bunt sind sie, aber welche Art genau, das weiß er leider nicht. Das kann ich als Biologin natürlich nicht so stehen lassen, und wir machen uns gemeinsam auf den Weg. An der großflächig ausgebauten Endhaltestelle der Straßenbahn gibt es viel „Begleitgrün“, als Bodendecker angepflanzte Zwergmispel (Cotoneaster). Die Zwergmispel steht in voller Blüte und an den Blüten saugen unzählige Distelfalter (Vanessa cardui) Nektar. Bei einem raschen Durchzählen kommen wir auf mindestens 60 Falter. Distelfalter sind Wanderfalter, die jedes Jahr von Nordafrika aus nach Norden ziehen und im Sommer manchmal in Massen auch bei uns ankommen. Es sind auffällig orange gefärbte, große Falter und selbst mein Sohn, der sich sonst eigentlich nicht so für die Lieblingstiere seiner Mutter interessiert, ist begeistert.

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Ein Kollege vom UFZ hat aktuell zusammen mit einem australischen Kollegen einen interessanten Beitrag dazu veröffentlicht, welches der beste Weg ist, die Natur vor dem negativen Einfluss des Menschen zu schützen (Seppelt & Cummin, 2016). Auf der einen Seite steht die Meinung, dass sich der Mensch von der Natur distanzieren solle, um so den Druck auf die Umwelt zu verringern. Dabei wird hier nicht gefordert, die Menschen aus der Natur herauszuhalten, sondern ihren Umgang mit der Natur zu reduzieren, insbesondere im Hinblick auf die Nutzung von natürlichen Ressourcen. Die Autoren plädieren für eine neue, erweiterte Form der „Umwelt-Sparsamkeit“ (environmental austerity). Das Ziel ist eine Balance zwischen Konsum und Umweltschutz.

Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass wir mit zunehmender Distanz zur Natur auch das Verständnis für die Natur verlieren und sie nicht mehr wertschätzen. In vielen Bereichen (so übrigens auch bei den Schmetterlingen) ist das sogenannte „shifting baseline syndrome“ zu beobachten. Wissen über den Zustand der Natur geht schlicht verloren, weil die jüngere Generation gar nicht mehr weiß, wie es früher einmal war. Die aktuelle Situation wird als Standard hingenommen. „Früher gab es viel mehr Schmetterlinge?“ So viel schlechter ist es doch in den letzten zehn Jahren gar nicht geworden… Eine größere Nähe zur Natur kann nur durch aktives Erfahren der Natur erreicht werden, durch Umweltbildung und Erfahrungsaustausch. Sogenannte „Citizen Science“-Projekte (also Projekte mit Beteiligung ehrenamtlicher „Bürgerwissenschaftler“) können hier eine wichtige Rolle spielen, denn sie bieten die Möglichkeit, die Natur zu erkunden und sie besser zu verstehen.

Natürlich gibt es hier keine einfachen Lösungen, aber die Autoren plädieren für ein „sowohl als auch“. Es ist wichtig, dass die Menschen nicht die Distanz zur Natur verlieren und sie genügend wertschätzen. Erst dann sind sie auch bereit, sparsamer mit den natürlichen Ressourcen umzugehen, auch wenn dies mit persönlichen Einschränkungen einhergeht.

Die Frage ist nur, wie weit wir uns bereits von der Natur entfernt haben und ob wir überhaupt bereit sind, uns in unserem alltäglichen Verbrauch einzuschränken.

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Distelfalter (Vanessa cardui) Foto: Joachim Müncheberg
Distelfalter (Vanessa cardui)
Foto: Joachim Müncheberg

Es ist eine komische Situation. An der Straßenbahnhaltestelle stehen zahlreiche Menschen und warten auf die nächste Bahn, während wir durch das Begleitgrün springen und uns über die Falter freuen. Die meisten Leute nehmen uns und die Falter gar nicht wahr, nur einige schauen irritiert. Schließlich spricht uns doch ein älterer Herr an und fragt, was wir denn da machen. Wir zeigen ihm die Falter, die in Massen umherfliegen und er ist ganz erstaunt. Er hat sie tatsächlich gar nicht gesehen und nimmt sie erst wahr, als wir sie ihm zeigen. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und erfreut sagt er „wie schön….“.

 

Literatur:

Ralf Seppelt & Graeme S. Cumming (2016): Humanity´s distance to nature: time for environmental austerity? Landscape Ecology, Volume 31, Issue 8, pages 1645-1651

Leser:innenkommentare (5)

  1. Ronny Strätling

    http://link.springer.com/article/10.1007%2Fs10980-016-0423-5

    Eine emotionale Distanzierung von der Natur kann schließlich nicht helfen, den Druck auf unsere Umwelt zu nehmen. Ich denke das Prinzip “make it someone esle’s problem” hat uns schon viel zu weit in Richtung einer zweigeteilten Landschaft gebracht: naturferne, verdichtete Ballungsräume und alles außerhalb sind noch naturfernere, intensiv genutzte Produktionsflächen für Nahrung und Energie. Man erreicht damit schließlich eine emotionale Distanzierung von der Natur und es interessiert schlichtweg niemanden mehr, das damit geschieht.

  2. Karl-Heinz Jelinek

    Ich meine, dass die Menschen in Mitteleuropa nicht nur eine bisher nicht noch nie erreichte Distanz zur Natur haben, sondern bereits überwiegend völlig entfremdet sind! Es fällt mir schwer zu glauben, dass dieser Zustand in einer Welt, in der Natur für viele nur noch schwer erlebbar ist, noch zu ändern ist. Wenn es überhaupt eine Chance auf ein Verständnis der Natur geben kann, so geht dieser Weg nur über das direkte Erleben. Wir brauchen besonders für Kinder die Möglichkeit, Natur aus der Nähe zu erleben. Das wird auch ohne “Schäden” in der Natur nicht gehen, aber jeder Schaden ist ein Gewinn!

  3. Ulrike Schäfer

    Dinge, die man nicht kennt, schätzt und schützt man nicht. Von daher glaube ich, daß dringend mehr Nähe zur Natur gebraucht wird. Das gilt besonders für Kinder. Denen muß ein Grundwissen vermittelt werden. Am Rande einer Großstadt lebend muß ich aber feststellen, daß es ja nicht mal mehr Gärten gibt, in denen Kinder richtig spielen können. Wenn sie denn überhaupt dafür Zeit haben … Die Grundstücke werden halbiert oder gedrittelt, dann Doppel- oder Reihenhäuser draufgestellt und der Garten besteht aus Kirschlorbeer, Bambus und Kieselsteinen oder irgendwelchen Platten.
    Es ist aus meiner Sicht nicht nur die Landwirtschaft für die derzeitige Situation verantwortlich sondern unsere Lebensweise und gesellschaftlichen Werte. Ich finde, wenn jeder einen noch so kleinen Beitrag leisten würde, wäre es deutlich besser um Schmetterlinge, Bienen und die Natur bestellt. Da ist viel Grundlagenarbeit erforderlich, die nicht nur im Kindergarten stattfinden sollte. Dabei belasse ich es jetzt einmal.

  4. Johannes

    Es kommt auf den Respekt vor der Natur an. Man muss wissen wie überhaupt ein einigermaßen natürlicher Raum aussieht, damit man ein Auge für die Veränderung der Natur bekommt.
    Natürlich ist ein Naturschutz wichtig, allerdings sollte dieser auf keinen Fall dadurch erreicht werden, dass sich der Mensch aus der Natur ausklinkt, sondern indem man die Natur kennen lernt und zu schätzen weiß. Dies kann nur durch eine umfassende Erfahrung der Natur geschehen.
    Deswegen sollte man möglichst viel draußen verbringen und die Menschen auf dem Land können sich glücklich schätzen zwischen Wäldern, Feldern und Wiesen zu leben.

  5. Natur-Papa

    Ich finde, dass besonders Kinder viel mehr Nähe zur Natur brauchen. Bedeutet ja auch nicht zwangsläufig anfassen und abrupfen ;-)

    lg Holger

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