Ausbildung in Glaziologie – Sterbebegleitung für einen Gletscher

Almabtrieb

Die Karthaus-Sommerschule zu Gletschern und Eisschilden im Klimasystem hat eine lange Tradition der Ausbildung von Generationen von Doktorierenden, die professionelle Netzwerke gebildet haben, die durch ihr ganzes Berufsleben bestehen bleiben. Die Karthaus-Sommerschule wurde im Detail in einem früheren Beitrag der EGU Cryoblogs beschrieben. Hier erzählen wir die Geschichte eines Gletschers … es ist die deutsche Übersetzung des Originalbeitrags der Cryoblogs.

(Tittlbild: Almabtrieb der Schafe über den Gletscher im September 2003. Rechts im Bild ist die Mittelmoräne. Die Erhebungen auf dem Gletscher stammen von Pfeilern eins Skilifts.)

Hochjochferner, ein sich zurückziehender Gletscher

Einer der Höhepunkte während jeder Sommerschule ist eine eintägige Exkursion auf den Hochjochferner (s. Titelbild), einem lokalen Gebirgsgletscher mit einem kleinen Skigebiet (eines der ersten Skigebiet, das im Herbst für Ski-Nationalmannschaften öffnet) und Drehort eines Teils des Films EVEREST in 2014. Aber der Hochjochferner war in touristischen Kreisen der Alpen schon seit Jahrzehnten bekannt (Ferner ist die lokale tirolerische Bezeichnung für Gletscher). Er befindet sich auf der nördlichen Seite der alpinen Hauptwasserscheide und floß früher von Italien aus in Richtung Norden über die Grenze nach Österreich (Abb. 2). Jedes Frühjahr mussten Schafe den Gletscher überqueren, um auf ihre Sommerweiden zu gelangen, ebenso auf dem Rückweg im Herbst. Dieser Almabtrieb (s. Titelbild) fand oft gleichzeitig mit der Exkursion der Sommerschule statt. Interessant ist dabei, das dieses von den Landwirten im italienischen Schnalstal / Val Senales durchgeführte traditionelle Ritual, ihre Schafe auf die österreichische Seite des Gebirgszugs zum Weiden zu bringen, weit in die Zeit vor dem Erscheinen der Nationalstaaten zurückreicht, wie wir sie heute kennen. Heutzutage haben es die Schafe aber viel leichter: es gibt keinen Gletscher mehr, der im Weg ist und den sie überqueren müssen. Er hat sich zurückgezogen, erheblich. Über die 20-jährige Geschichte der Karthaus-Sommerschule hat der Klimawandel seinen Abdruck auf dem Hochjochferner hinterlassen.
Abb. 2: Landsat 5-Satellitenaufnahme der Ötztaler Alpen vom 16. August 1992 mit dem  Hochjochferner (HJF). Die Karte rechts unten zeigt die Region im Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien. (Weitere Gletscher: HF: Hintereisferner, GEP: Gepatschferner, KWF: Kesselwandferner, VF: Vernagtferner; Zusammenstellung von W. Rack, 2008.) Die Aufnahme zeigt auch die unmittelbare Nachbarschaft zum Vernagtferner (VF), auf welchem jährlich die Glaziologie-Exkursion der Univeristät Bremen und der POLMAR-Graduiertenschule des AWIs zusammen mit der Komission für Erdmessung und Glaziologie stattfindet.

 

Abb. 2 ist ein typisches Bild, dass während der Fernerkundungsvorlesung in der Sommerschule verwendet wird. Es zeigt die Ötztaler Alpen mit dem Hochjochferner auf einer Aufnahme des Landsat 5. Der Gletscher wird von zwei Einzugsgebieten gespeist, die durch einen Grat getrennt sind. Der Gletscher füllt das gesamte Tal bis zur anderen Seite, die beiden Gletscherzweige sind durch eine Mittelmoräne voneinander getrennt, die an diesem Grat entspringt.
Jede Generation der Karthaus-Doktorierenden hat jeweils nur eine Momentaufnahme des Gletscherzustands gesehen. Nur Langzeitdozenten und jene, die selber während der Doktorarbeit die Sommerschule besucht haben, konnten verfolgen, wie der Gletscher jedes Jahr kleiner und kleiner wurde. Einer der Exkursionpunkte ist eine automatische Wetterstation (AWS), die eine ältere im September 2013 ersetzt hat, beide Betrieben durch das niederländische Instituts für Marine und Atmosphären-Forschung (IMAU) in Utrecht (Abb. 3a). Es war üblich, die Station einmal jährlich während der Sommerschule zu überprüfen, um sicherzustellen, dass alles ordnungsgemäß funktionierte. Leider hat der starke Rückzug des Gletschers (und damit eine starke Ausdünnung) uns gezwungen, die AWS in 2018 abzubauen, bevor der Gletscher unter ihr verschwindet.

Ebenfalls in 2013 wurde eine Zeitrafferkamera (Abb. 3b & c) an einem Zollhaus befestigt, einer früheren Schutzhütte für Zollbeamte. Interessanter Nebenaspekt: die Hütte ist ein Überbleibsel aus der Zeit, als es noch Grenz- und Zollkontrollen zwischen Italien und Österreich gab, vor dem Schengenabkommen und der Zollunion. Heute ist die Hütte in Privatbesitz und kann für Flitterwochen und für andere Besuche gebucht werden. Die Kamera wurde 2018 abgebaut, das letzte Bild wurde im Herbst 2019 von Hand gemacht.

Abb. 3: Aufnahmen a) der Wetterstation auf dem Hochjochferner im September 2017, b) des Zollhauses von der Wetterstation aus gesehen, September 2016, und c) Panoramablick des Zollhauses und des Hochjochferners in 2017. Fotos: O. Eisen und C. Tijm-Reijmer.

Der daraus zusammengesetzte Film (s.u.) zeigt die traurige Entwicklung des Hochjochferners über nur sechs Jahre. Die Kamera war an der Zollhütte befestigt, die Bilder stammen seit 2013 aus jedem September des Jahres (das Ende der Schmelzsaison), 2017 fehlt auf Grund eines früheren Schneefalls und einer Fehlfunktion der Kamera. Ein weißer Punkt markiert die Position der Wetterstation im Film. Der einzige Hinweis auf die frühere Pracht des Gletscher ist die talquerende Mittelmoräne, die noch heute sichtbar ist.

Zukunftsaussichten

Ausbildungstechnisch hat die Entwicklung des Gletscher einen kleinen positiven Nebeneffekt: während des Sterbeprozesses des Gletscher und dem damit verbundenen Rückzug entwickelten sich auch neue glaziologische  Formen. Der schnelle Rückzug hat eine Reihe geomorphologischer Typen zurückgelassen, wie Esker (auch Os oder Wallberg genannt, lange Sedimentrücken, die an der Unterseite des Gletschers gebildet wurden). Die Studierenden können heute in Echtzeit sehen, wie diese Formen gebildet werden und wie sie mit der Gletscheraktivität zusammenhängen, dem Wechselspiel zwischen Wasser und Sediment und der Veränderung der Gletscherausdehnung über die Zeit.
Im gegenwärtigen Klima, oder besser mit dem heutigen Klimatrend, in welchem 2019 das wärmste Jahr in Europa und das vergangene Jahrzehnt – mal wieder – das wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen waren, wird der Hochjochferner seinen Rückzug unaufhaltsam fortsetzen. Der untere Teil wird wahrscheinlich in den nächsten fünf Jahren verschwinden, während der obere Teil vermutlich ein weiteres Jahrzehnt überdauern könnte. Die Generation der Studierenden in den 2040ern, sofern es die Sommerschule dann noch geben wird, wird ziemlich sicher nicht mehr auf dem Eis laufen können, aber Zeugnis ablegen können über die Auswirkungen des menschgemachten Klimawandels.

Weitere Informationen:

Die Karthaus-Sommerschule: www.projects.science.uu.nl/iceclimate/karthaus

Klimamitteilung der ESA vom 16. Januar 2020: ESA Climate Bulletins

Redakteurin des Originalbeitrags: Marie Cavitte
Olaf Eisen ist Professor für Glaziologie am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtzzentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven und der Universität Bremen. Seine Forschung konzentriert sich auf die Anwendung glaziologischer und geophysikalischer Beobachtungen im Feld, um die Eigenschaften von Eisschilden und Gletschern und ihre Wechselwirkung mit der Umwelt zu verstehen. Er hat zahlreiche Feldkampagnen in beiden Polarregionen und auf Alpinen Gletschern durchgeführt. Seit 2017 ist er Präsident der EGU Divsion on Cryospheric Sciences und Ko-Chefredakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift „The Cryosphere“ der EGU.
Kontakt: oeisen@awi.de
Carleen Tijm-Rijmer ist Assistenzprofessorin für Polare Meteorologie am Institut für Marine und Atmosphären-Forschung (IMAU) der Universität Utrecht in den Niederlanden. In ihrer Forschung befasst sie sich mit der Wechselwirkung zwischen Eis imd Atmosphäre, v.a. hinsichtlich der Oberflächenmassen- und Energiebilanz durch Modellierung und beobachtende Techniken. Sie hat an Feldarbeiten in der Antarktis, Grönland, Svalbard und den Alpen teilgenommen und diese (ko)organisiert. Sie ist eine Koorganisatorin der jährlichen Karthaus-Sommerschule zu Gletschern und Eisschilden im Klimasystem und ist gegenwärtig Vizepräsidentin der EGU Divsion on Cryospheric Sciences und wird 2021 das Amt der Präsidentin übernehmen.
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