Stuck in Kangerlussuaq – das Wetter ist zu … schön?

Terminus (Gletscherfront) des Russell-Gletschers
Anfahrt zum Russell-Gletscher. Man erkennt deutlich die Moräne an der Front und Seite, die der Gletscher zum letzten Hochstand geschaffen hat. Seitdem hat er sich zurück gezogen.

Das Bohrcamp auf dem Eis ist zwischen April und August offen. Im Abstand von mehreren Wochen wird die Crew nach und nach ausgetauscht, damit niemand länger als etwa sieben Wochen am Stück an EastGrip verbringt. Ich bin Teil der letzten „Schicht“, bevor das Camp im August für den Winter geschlossen wird, und soll Jan bei den Physical Properties ablösen. Wenn ich von Kangerlussuaq nach EastGrip komme, fliegt Jan in die andere Richtung und kann dann einen wohlverdienten Urlaub nehmen.
Eigentlich sollte dieser Austausch bereits am Donnerstag stattfinden. Stattdessen ist der Flug auf’s Eis wohl erst am Sonntag möglich, denn: Das Wetter ist zu gut. Ja, genau, zu gut. Die Temperaturen beim Camp sind zuletzt von etwa -19°C auf -5°C gestiegen und das bedeutet, dass der Landestreifen, der in den Tagen vor einer Flugperiode sorgfältig präpariert werden muss, zu weich ist – die Hercules hätte wahrscheinlich Schwierigkeiten nach dem Austausch der Crew von EastGrip wieder wegzukommen.

Vom Russell-Gletscher abgeschliffenes Felsbett.

Während meine Kollegen von den Physical Properties an EastGrip also im Science Trench fleißig sind und wichtige Kämpfe um die Musikhoheit austragen, sitz ich hier in Kangerlussuaq fest.
Bei strahlend schönem Wetter, so ein Pech.

Aber nochmal einen Schritt zurück: In Kangerlussuaq, ein Ort im Westen von Grönland, der hauptsächlich aus einem Flughafen und einer alten U.S. Air Base besteht, gibt es ein Containergebäude, das „Kangerlussuaq International Science Support“, kurz KISS. Das ist eine Mischung aus Wissenschaftlerhostel und Kommandozentrale und gar nicht mal ungemütlich. Es gibt auch W-Lan, das aber nur innerhalb einer bestimmten Entfernung vom Büro funktioniert („No Netflix!“). Man sieht dann zu bestimmten Tageszeiten mehrere Personen im Flur vorm Büro schweigend auf ihre Smartphones starren, man kennt das ja.

„Kangerlussuaq International Science Support“, kurz KISS (nicht die Band).

Einer der schönsten Aspekte bei dieser Art der Forschung ist, dass man sehr viele unterschiedliche Menschen trifft und bestenfalls kennenlernen darf, wenn man mehrere Wochen auf relativ engem Raum zusammen verbringt. Da sorgen die unterschiedlichen Kulturen und Erfahrungen für viele spannende Gespräche und man freut sich über den unkomplizierten Kontakt ohne unnötige Grenzen. Allerdings hätte ich vielleicht ein paar Brocken Dänisch lernen sollen, den viele Crew-Mitglieder kommen aus Kopenhagen. Für mich ist es das erste Mal in Grönland und das erste Mal, dass ich bei einer so großen Eiskernbohrung dabei sein darf, während einige meiner Kollegen hier bereits seit vielen Jahren an solchen Polarexpeditionen teilnehmen und die Metamorphose zum Yeti bald abgeschlossen haben.
Den unfreiwilligen Aufenthalt bei T-Shirt-Wetter haben wir daher gestern genutzt um die Kennenlernphase bei einem großen BBQ im „Warehouse“ (Lagerhaus für EastGrip) voranzutreiben. Da es hier im Ort nur beschränkte Möglichkeiten zur vollwertigen Ernährung gibt, war das umso mehr ein Anlass zur Freude. Eine aus Holzplatten und Paletten fix zusammengeschraubte Tafel, Burger, frisch gefangener Cod mit Limette und marinierte Gemüsespieße, dazu Reissalat, Nudelsalat und ein paar Bier, was will man mehr.

Kangerlussuaq-BBQ im Lagerhaus-Stil.

Unsere gesamte Polarausrüstung wurde schon zu Beginn der Saison nach Kangerlussuaq geschickt und wartete im Lager auf unsere Ankunft. Die zusätzlichen Tage hier haben dazu geführt, dass ich schon etwa drei Mal umgepackt habe (Welche Kleidung ziehe ich während des Fluges nach EastGrip an? Brauche ich wirklich alles oder lasse ich gleich was im Lagerhaus zurück? Wie viel Kram kann ich noch in den Seesack stopfen, bevor er platzt?). Die gesamte Polarkleidung aller Personen, die zum Camp fliegen, wurde für den anstehenden Flug jetzt bereits auf eine große Palette gepackt und gewogen.

Aber eigentlich sind wir ja hier um die Geheimnisse des grönländischen Eisschildes zu ergründen. Eine erste Kontaktaufnahme fand bei einem kleinen Ausflug zum Russell Glacier statt. Dieser Gletscher war in den letzten Jahren bereits Gegenstand der Forschung von Glaziologen des AWI. Mit seismischen Messungen auf dem etwa 500 m hohen Gletscher (an mehreren Stellen bis zu 60 km gletscheraufwärts) wurde untersucht, wie das Bett des Gletschers beschaffen ist um zu erklären wieso der Gletscher zeitweise sehr hohe Geschwindigkeiten von 400 m pro Jahr aufweist.
Nach etwa 20 Minuten Fahrt mit dem Jeep über eine Schotterpiste durch eine Landschaft, die mit ihren angeschliffenen rot-braun-grünen Hügeln und niedrigen Heidelbeersträuchern an die schottischen Highlands erinnert, erreichen wir die etwa 70 m hohe vertikale Kalbungsfront des Gletschers und bestaunen den tosenden Fluss aus Schmelzwasser, der zwischen uns und dem Rand des Eisschildes liegt. Die Dimensionen und physikalischen Parameter des Eises zu kennen ist nicht dasselbe wie davor zu stehen – es ist überwältigend.
Hoffentlich geht es bald los!

 

Johanna Kerch

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