Professor Yury Litvinov leitet die Gruppe „SPARC-Detektoren“ innerhalb der GSI-Forschungsabteilung Atomphysik, die Experimente mit exotischen Atomkernen im Experimentierspeicherring ESR durchführt. Sein Team ist verantwortlich für die Konstruktion neuer Messinstrumente für die zukünftigen SPARC-Experimente an den FAIR-Speicherringen. Seit 2016 ist Litvinov leitender Wissenschaftler für den EU-geförderten ERC Consolidator Grant „ASTRUm“ und seit 2017 außerplanmäßiger Professor an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Das Interview führte Carola Pomplun während der Experimentierzeit März/April 2020.
Was für ein Experiment läuft gerade?
Wir führen gerade ein sehr komplexes Experiment durch, das wir schon lange planen. Es nutzt unsere gesamte Beschleunigerkette von den Ionenquellen, dem Linearbeschleuniger UNILAC über den Ringbeschleuniger SIS18, den Fragmentseparator FRS und den Speicherring ESR mit seinem kompletten Arsenal: Strahlakkumulation, schnelle stochastische und Elektronenkühlung, internes Überschall-Gasjet-Target, zerstörungsfreie Teilchendetektion usw. Wir beschleunigen Blei-Ionen und schlagen dann in einem Produktionstarget ein Proton heraus, so dass das Isotop 205-Thallium entsteht. Um es aus der Masse anderer Kernreaktionsprodukte im Target herauszufiltern, nutzen wir den FRS. Dann speisen wir es in den ESR ein, dort wird es angehäuft und gekühlt, und wir warten auf den extrem langsamen gebundenen Beta-Zerfall, bei dem sich eins der Neutronen des Thalliums in ein Proton umwandelt. Das dabei entstehende Elektron wird direkt vom Tochterkern 205-Blei eingefangen, darum gebundener Zerfall. Aber das 205-Thallium und das 205-Blei sind sich in der Masse so gleich, dass wir sie beim Umlauf im ESR nicht unterscheiden könnten. Deshalb streifen wir nach einiger Zeit im Gasjet das produzierte Elektron vom Bleikern ab, danach ändert sich der Orbit des Bleis im Ring stark genug, dass wir beide Kerne unterscheiden und messen können. Aktuell können solche exotischen Zerfälle nur bei GSI untersucht werden, wo wir diese einzigartigen Experimenteinrichtungen und Messgeräte haben.
Und um welche Erkenntnisse geht es?
Die Zerfallsprozesse spielen eine große Rolle beim Verständnis der Entstehung von Elementen in Sternen, der sogenannten Nukleosynthese. Das Thallium steht ziemlich am Ende der Kerne, die durch langsamen Neutroneneinfang, den sogenannten s-Prozesses, entstehen. Das ist einer der Prozesse, mit denen in großen Sternen schwere Elemente gebildet werden. Man glaubt, dass der s-Prozess für etwa die Hälfte aller chemischen Elemente verantwortlich ist, die wir auf der Erde, in unserem Sonnensystem oder in der Galaxie sehen. Das Besondere an 205-Thallium ist, dass es normalerweise stabil ist und nur instabil wird, wenn es seine Elektronen verloren hat, wie das auch in den Sternen passieren kann. Weiterhin hat der Tochterkern 205-Blei eine sehr lange Halbwertszeit von 17 Millionen Jahren und zerfällt in unser 205-Thallium. Ob und wann Blei zu Thallium und Thallium zurück zu Blei zerfällt, beeinflusst dann natürlich das empfindliche Verhältnis zwischen der letztendlichen Menge von Thallium und Blei. Es ist also ein wichtiger Baustein zum Verständnis der Elementhäufigkeit in unserem Universum. Aus dem Verhältnis können wir mehr über den Ursprung der Materie unseres Sonnensystems lernen.

Das laufende Experiment wird hauptsächlich vom Hauptkontrollraum aus überwacht. Foto: G. Otto, GSI/FAIR
Wie hat die Corona-Pandemie deinen Arbeitsalltag verändert?
Das war ein extremer Einschnitt bis an die Grenze der Machbarkeit. Eine große Zahl von Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland – aus Europa, Asien und Nordamerika – sollte eigentlich zu uns kommen und zum Experiment beitragen, die nun nicht mehr anreisen können. Gerade die Hände der externen Experten, beispielsweise für bestimmte Geräte, fehlen uns vor Ort. Sie versuchen aber, uns bestmöglich auf allen zur Verfügung stehenden Kommunikationskanälen aus der Ferne zu unterstützen. Mir persönlich fehlt insbesondere die lebhafte und aufregende Atmosphäre mit vielen Personen im Hauptkontrollraum. Normalerweise diskutiere ich ununterbrochen mit den Beteiligten, wir entwickeln oft Ideen und oft kontroverse Problemlösungen und geben gegenseitig Feedback. Und natürlich weisen wir auch Nachwuchsforscher ein, die uns über die Schulter schauen und lernen. Das ist alles gerade nicht möglich, die Personen vor Ort müssen sehr viele Entscheidungen allein treffen, da effizientes Brainstorming über eine Ad-hoc-Videokonferenz nicht immer möglich ist. Weil nicht so viel Personal da ist, dauern viele Aktionen länger. Ich möchte aber ein großes Lob und viel Dank an meine Kolleginnen und Kollegen aussprechen. Das Engagement und die Bereitschaft ist enorm! Alle tragen ihr Bestes bei, um auftretende Schwierigkeiten zu bewältigen. Ich möchte auch unserem Management für die kontinuierliche Unterstützung danken. Unser Wissenschaftlicher Geschäftsführer Professor Paolo Giubellino kommt jeden Abend im Hauptkontrollraum vorbei, was wir sehr wertschätzen.
Welche Schutzmaßnahmen für dich und die Beteiligten habt ihr ergriffen?
Die Abstandsregel gilt natürlich auch für uns. Wir versuchen, mit maximal zwei Personen am gleichen Ort zu arbeiten, die dann auch Schutzmasken tragen, wo es erforderlich ist. Unsere Kolleginnen und Kollegen des Beschleunigerlabors in Lanzhou in China, denen wir langjährig freundschaftlich verbunden sind, waren so nett, uns viele Schutzmasken zu schicken, die wir verwenden können. Dafür sind wir ihnen zu großem Dank verpflichtet.
Gab es ein besonders kniffeliges Problem?
Wir mussten schon ein wenig kämpfen, um die gesamte Maschine so einzustellen, dass unser Experiment laufen kann und nun erfolgreich Daten nimmt. Viele dieser Herausforderungen hätte es sicher auch ohne die Corona-Pandemie gegeben, aber es wären mehr Personen da gewesen, die bei der Bewältigung geholfen hätten. Ohne Corona wären mit den Externen ständig rund 30 Personen vor Ort gewesen, nun müssen wir es mit weniger als zehn schaffen. Für mich ist es auch psychologisch schwierig, dass die vielen Externen, die in der Vorbereitung so viel zum Experiment beigetragen haben, nun nicht hier sein können, um die Früchte ihrer Arbeit zu sehen und zu ernten.
Was wünschst du dir für die nächste Zeit?
Ein bisschen Schlaf. Und ich habe gehört, es hätte in den vergangenen Tagen auch mal Sonne gegeben! Aber Spaß beiseite: Das ganze Team hier hat mit mir die vergangenen Tage wirklich alles gegeben. Wir sind nun erst einmal froh, dass unser Experiment läuft. Ich erhoffe mir, dass wir gute Daten nehmen können, mit denen auch unsere Doktoranden erfolgreich ihre Arbeiten schreiben können und am besten mit einem „summa cum laude“ nach Hause gehen. Und ich wünsche mir sehr, dass auch mein leider schon vor einiger Zeit verstorbener Mentor und Freund Fritz Bosch, der im Hauptkontrollraum gerade sehr vermisst wird, mit dem Experiment zufrieden wäre.
Sehr erfolgreiche Experimente, hochwertige Ionenstrahlen für die Forschung – die Experimentierzeit auf dem GSI- und FAIR-Campus lieferte trotz der Corona-Pandemie positive Ergebnisse. In zahlreichen Bereichen konnte die bestehende Beschleunigeranlage Forscherinnen und Forschern vielfältigste Ionenstrahlen zur Verfügung stellen und den Weg für neue Entdeckungen und exzellente Forschungsmöglichkeiten der Zukunft öffnen. In unserem Blog berichten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie sie die Krise erleben und bewältigen.
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