Neutrinos im Speicherring
Physiker ist kein Beruf sondern eine Berufung. Das sieht man daran, dass viele eigentlich schon lange pensionierte GSI-Wissenschaftler immer noch an den Experimentierplätzen anzutreffen sind. Einer von ihnen ist Fritz Bosch. Er ist seit einigen Jahren in Rente und steht trotzdem in vorderster Reihe im Hauptkontrollraum. Hier findet gerade das sogenannte Neutrino-Oszillations-Experiment statt.
Freitag, 10. Oktober, 14:30 Uhr. Mit außergewöhnlichen Experiment-Aufbauten versuchen Wissenschaftler die rätselhaften Neutrinos zu erforschen: Blöcke, die tief im Eis der Antarktis versenkt sind, sollen Neutrinos messen, die aus dem All zu uns kommen (IceCube). Ein anderes Experiment erstreckt sich über 730 Kilometer durch Italien. Vom CERN produzierte Neutrinos strömen unterirdisch nach Gran Sasso, wo sie in einem Bergstollen gemessen werden (CNGS). Auch bei GSI können wir die Eigenschaften von Neutrinos mithilfe des Experimentierspeicherrings (ESR) untersuchen.

Der ESR wird vom Hauptkontrollraum aus gesteuert. Hier treffe ich Fritz Bosch, den Experimentleiter Yuri Litvinov und sein Team. Sie wollen beweisen, dass es die sogenannte Neutrino-Oszillation gibt. Das klingt nach einer physikalischen Herausforderung. „Es gibt drei verschiedene Sorten von Neutrinos: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos, die jeweils aus unterschiedlichen Neutrino-Massen zusammengesetzt sind“, erklärt Bosch. „Diese Neutrino-Sorten können sich ineinander umwandeln. Wir glauben, dass wir Effekte dieser unterschiedlichen Neutrino-Massen in unserem Speicherring schon gesehen haben. In der Wissenschafts-Community ist das aber umstritten.“
Die Wissenschaftler brauchen „fünf Sigma“, ein Maß dafür wie verlässlich die Daten sind. Ganz grob ausgedrückt bedeuten fünf Sigma, dass die Chance, mit der die beobachteten Ergebnisse auf Messfehler oder unzureichende Statistik zurückzuführen sind, kleiner als eins zu einer Million ist. Dafür müssen aber genug Daten zusammenkommen. Und genau da liegt das Problem. „Wir hatten 28 Tage Strahlzeit beantragt“, erzählt Bosch. „Weil aber alle dieses Jahr noch einmal Strahlzeit haben wollten, wurden uns nur 19 Tage bewilligt. Das wäre schon knapp gewesen. Aber dann gab es ein ernsthaftes und langwieriges Vakuumproblem im Synchrotron, wodurch wir im Endeffekt nur zwölf vollwertige Experimentiertage hatten.“ Fast zu wenig, um genug Daten zu sammeln. Die Wissenschaftscommunity verlangt aber nicht nur fünf Sigma. Bosch erzählt von einer Konferenz, auf der 40 Neutrino-Experten das Experiment analysiert und bewertet haben: „Sie haben Vorschläge gemacht, wie wir unseren Aufbau ändern sollten, damit unsere Daten wirklich belastbar werden. Zum Beispiel haben sie uns geraten, den Elektronenkühler abzustellen, um auszuschließen, dass er den Effekt verursacht.“ Dieses wichtige Kontrollexperiment konnte wegen der stark reduzierten Strahlzeit aber leider noch nicht angegangen werden.

Doch wie soll diese Neutrinooszillation eigentlich gemessen werden? Der Ringbeschleuniger schießt einmal pro Minute einen Samarium-Strahl auf ein etwa 1,5 cm dickes Beryllium-Target. Dabei werden verschiedene Atomkerne produziert. Der FRS sortiert die Promethium-Ionen heraus und speist sie in den ESR ein. „Jetzt sind gerade acht Promethium-Ionen im Ring, alle mit noch einem einzigen gebundenen Elektron. Sie haben etwa eine Lebensdauer von 40 Sekunden. Dann zerfallen sie und das ist der interessante Moment!“, erklärt Bosch. Promethium-Ionen mit einem Elektron zerfallen in einem sogenannten Zwei-Körper-Zerfall in das Element Neodym, wobei sich das Elektron in ein Neutrino „umwandelt“. „Es entstehen in jedem Zerfall Neutrinos, die aber einen winzigen Massenunterschied haben können. Dies könnte zu einer Interferenz („Schwebung“) in der Zerfallswahrscheinlichkeit, also zu einer „Oszillation“ führen mit einer Periodendauer, die dem winzigen Massenunterschied der Neutrinos entspräche. Je kleiner dieser Unterschied ist, desto länger wäre diese Periodendauer.

Thomas Faestermann von der TU München kommt in den Hauptkontrollraum. „Hast du die neuen Daten?“, fragt Bosch sofort. „Ja, ein Moment.“ Alle drängen sich um einen Bildschirm herum. „Hm, das sieht schlechter aus“, sagt Bosch. „Die Amplitude ist um zwei Prozent kleiner geworden. Eigentlich sollte sie deutlicher werden, jetzt wo wir mehr Daten haben.“ Ein vorübergehender Dämpfer für die Stimmung. Bosch erklärt mir die Situation: „Das ist ein Rückschlag für uns. Jetzt müssen wir nachdenken.“ Ihm ist anzumerken, wie viel ihm am Erfolg dieses Projekts liegt. Die Pensionierung hat daran nichts geändert. Wahrscheinlich halten wissenschaftliche Neugier und Ehrgeiz jung. Fritz Bosch wird wohl auch bei den nächsten Strahlzeiten noch dabei sein (falls es diese in absehbarer Zeit geben wird) und zusammen mit seinen Kollegen und Kolleginnen versuchen, für sich selbst und dann auch für die Wissenschaftscommunity die Frage zu klären, ob die „Neutrino-Oszillationen im Speicherring“ real sind oder nur eine Fluktuation der Statistik. Es sei denn, dass die Resultate des gerade laufenden Experiments diese Frage bereits definitiv beantworten werden.




