Polarnacht und die WG am Ende der Welt

Blick vom Dach in der klirrend kalten Mittagsdämmerung (Foto: Aurelia Hölzer)

Liebe Leserinnen und Leser,

es ist höchste Zeit, ein paar gängige Annahmen vom Tisch zu fegen: die vielbesungenen „Schrecken des Eises und der Finsternis“- und die Vorstellung, dass wir hier im Überlebensmodus auf Durchhaltekurs sind, bis endlich die Sonne wieder aufgeht oder es frische Karotten gibt. Mitnichten. Alles ist prima, uns geht es gut.

In der Vorbereitungszeit für die Überwinterung mag die Vorstellung, einen ganz unaufgeregten Alltag in der Antarktis zu haben, absurd erscheinen – aber die Normalität stellt sich leise und unweigerlich ein. Seit sechs Monaten sind wir hier, die Arbeit läuft rund. „Ist morgen Donnerstag? Scheiße, schon wieder!“ entfuhr es heute Werner beim Mittagessen. Die Zeit steht und rennt zugleich. Denn eigentlich ist ein Tag wie der andere. Wenn es Nudeln gibt, wissen wir, dass Montag ist und samstags wird zu lauter Musik geputzt. Man bekommt kaum mit, wie die Zeit fliegt, wir dümpeln in unserer selbststrukturierten Ewigkeit, weitgehend entkoppelt vom Rest der Welt.

Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, die Antarktis erleben zu dürfen, geschweige denn, die Polarnacht. Sie ist vielfältig und wunderschön. Wenn man an bewölkten Tagen draußen ist, kann es tintenschwarz sein, die Station erscheint dann mit ihren leuchtenden Fenstern wie ein Raumschiff: gelandet, um uns mitzunehmen.

Heute mal ein Raumschiff (Foto: Hannes Keck)

Mittags bekommen wir Dämmerung, die in surrealen, dramatischen Farben am Horizont entlangwandert, im Halbkreis um uns herum, um wieder zu versinken. Manchmal toben die Stürme um die Station herum, tage- oder wochenlang, die Station wackelt dann und wir werden in den Betten in den Schlaf geschuckelt. Es kann von oben schneien, oder von unten: wenn der Wind den liegenden Schnee aufhebt und als Drift derart durch die Welt bläst, dass man kaum die Hand vor Augen sieht. An solchen Tagen – oder Wochen – bleibt das Farbenspiel der Dämmerung aus. Wenn man aus dem großen Südfenster in der Lounge schaut, sieht man schlicht und ergreifend: nichts. Die Welt wird von schwarz zu milchigem Mittagsgrau und wieder zu schwarz. An anderen Tagen mit klarer Sicht zaubern Luftspiegelungen Fata Morganas im Dämmerlicht über die Bucht, von schwebenden Bügeleisen über Sahnetorten bis hin zu orientalischen Städten aus „1001 Nacht“ ist einiges geboten, im Norden erscheint regelmäßig die Autobahnbrücke von Genua (meist intakt), das Okavango-Flussdelta hat uns auch schon besucht.

Blick ins „Mittagsgrau“ auf den EDEN-Container (Foto: Aurelia Hölzer)
Blick vom Dach in der klirrend kalten Mittagsdämmerung (Foto: Aurelia Hölzer)
Passt gut auf uns auf: die Station (Foto: Aurelia Hölzer)
Kabausenromantik in polarnachtpink (Foto: Aurelia Hölzer)
Flammender Himmel um die Mittagszeit (Foto: Michael Trautmann)

Es lohnt sich immer, mal kurz auf’s Dach zu gehen. Die Sternenhimmel sind unfassbar. Die Milchstraße, das Weltall erscheinen zum Greifen nah und so manch einer konnte es sich nicht verkneifen, unserer Nachbargalaxie, der großen Magellan’schen Wolke, einmal zuzuwinken. Die Sterne fühlen sich beinahe näher an als die zivilisierten Kontinente. Unsere gefühlte Nachbarschaft ist auf jeden Fall das Weltall, unsere galaktische Adresse: Neumayer-Station, Antarktis, Planet Erde, Milchstraße, Universum.

Sternenhimmel über dem Spurenstoffobservatorium (Foto: Hannes Keck)

Neben den weiten Dimensionen werden im Alltag die kleinen Dinge groß, man wird sensibel für Geräusche, Gerüche, kleine Lichtnuancen. Das metallische Kreischen von Schritten im frisch gefallenen Schnee, wenn er erstmals unter -30°C kalt wird, klingt völlig anders und fällt deutlich auf. Manchmal tönt der Schnee beim Gehen laut und hohl, fast als wäre eine Trommel darunter. Die Driftkristalle im Wind, wenn sie einem gegen Mütze und Skibrille fliegen, hören sich an wie trocken knisterndes Papier. Wenn man auf dem Eis auf dem Rücken liegt und mit der Stirnlampe in die schwarze Ewigkeit schaut, sieht man feinste Eiskristalle wie Strahlen aus Sternenstaub in der Nacht funkeln. Frischer gefallener Schnee schmeckt anders als der feste, Plättcheneis hat eine andere Krach-und Beiß-Konsistenz als Meereis oder Blaueis vom Schelf (wir probieren alles!), Westwind fühlt sich kälter an als der gewohnte Ostwind, auch wenn das Thermometer anderer Meinung ist.

Eine Nacht wie gemacht für Schlafstörungen (Foto: Michael Trautmann)

Eine unfassbare Schönheit in der Polarnacht steuern natürlich die Polarlichter bei. Eigentlich sollte es nur schwache geben. Dem Schwabe-Zyklus nach sind wir dieses Jahr noch ziemlich im Tal der Sonnenaktivität – aber die Polarlichter halten sich nicht daran, zu unserer Begeisterung. Sie sind derzeit der Hauptgrund für Schlafstörungen. Häufig wird man von nachtaktiven MitbewohnerInnen, die die Augen offengehalten haben, aus dem Schlaf getrommelt. Dann treffen sich immer mehr eingemummelte Gestalten auf dem Dach, im Windschatten der Ballonfüllhalle, um zu staunen. Für den milchigen Polarlichtbogen im Süden steht – außer Micha – niemand mehr auf. Aber in guten Nächten kann man mit etwas Glück spektakuläre Schauspiele sehen: grelle Strahlen, die wie Scheinwerfer im Süden in den Himmel schießen und sich dann als schwingende Vorhänge verteilen. Oder, wie neulich, leuchtende Schlieren, die sich in gigantischen Wirbeln über den Nachthimmel bewegen und so hell sind, dass die Sterne verblassen. Damit auch die Richtigen geweckt werden und niemand vergessen wird, hat Markus Schilder entworfen, die an den Türklinken hängen, wie im Hotel: eine Seite rot mit „bitte nicht stören“, die andere grün, wenn man für Polarlichter geweckt werden will.

Türschilder made by Markus (Foto: Aurelia Hölzer)
Mal wieder nachts auf dem Dach – wo sollte man auch sonst sein! (Foto: Michael Trautmann)

Die mondhellen Nächte haben ihren ganz eigenen Zauber. Oft strahlen sie eine ergreifende Stille aus. Wenn man vom Dach aus nach Süden schaut in die Einsamkeit, kann man ahnen, dass hier ein riesiger Kontinent in all seiner mondhellen Pracht liegt, von keinem menschlichen Auge gesehen und bestaunt – nur an sehr wenigen Punkten von ein paar vereinzelten Überwinterlein wie uns.

Die aus der Ferne furchterregend erscheinende Kälte ist völlig normal geworden, man passt sich an, „Wärmemanagement“ können wir mittlerweile prima. Der Wind verschärft die bestehende Kälte deutlich, so dass längere Draußenaktivitäten möglichst an windstillen Tagen gemacht werden. Wenn es ein gutes Wetterfenster gibt, kommt sofort Aktivismus auf, alle wollen raus, um dringend anstehende Draußenarbeiten zu erledigen. Aus Deutschland bekommen wir von unseren Lieben oft Fotos von Blumen und Gärten geschickt, wir hören in den Nachrichten von Hitzewellen und Dürre. Auch hier hatten wir ein paar warme Tage, nur -10°C. Katrin, die viel in der recht kühlen Werkstatt arbeitet, meinte neulich auf der Treppe: „heute war es warm in der Werkstatt. Unangenehm warm!“ Wir sind den Umgang mit Kälte gewohnt, sie ist unsere Normalität. -10°C erscheinen uns so warm, dass man kaum weiß, wie man sich anziehen soll – und die Vorstellung von + 30°C wie derzeit in Deutschland klingen unvorstellbar und ein bisschen erschreckend.

So gut es uns geht- wir kommen nicht umhin zu bemerken, dass uns die ganze Sache hier doch ein bisschen auf‘s Hirn schlägt, oder: auf alles. Die Sonne ist schon eine ganze Weile weg und wir sind seit sechs Monaten im gleichen Haus – was völlig okay ist, aber eben nicht ohne Wirkung bleibt. Es gibt jetzt Vampire und Murmeltiere: die einen werden nachtaktiv und finden nicht in den Schlaf, die anderen könnten andauernd schlafen. Wir sind tendenziell müde, blass, vergesslich und antriebsgemindert. Die Schrauben scheinen ein bisschen gelockert, das Hirn in Watte gepackt. Handlungsplanung fällt schwer, der Elan und der „Zug zum Tor“, wie man im Fußball sagen würde, fehlen oft. An manchen Tagen muss man sich regelrecht selbst vor sich herschieben, damit man etwas gebacken bekommt. Und: mehr schlafen nützt nichts, wir haben es ausprobiert. Die Stimmung ist nichtsdestotrotz sehr heiter, gottseidank, wir fühlen uns pudelwohl miteinander, sind entspannt und fröhlich. An Kreativität und Flausen im Kopf mangelt es komischerweise auch nicht, offenbar sind nicht alle Hirnfunktionen gleich stark betroffen. Wir alle nehmen es milde, wenn jemand eine Absprache vergisst oder was verschusselt – es passiert uns allen und wir gleichen das geduldig aus. Überwintern ist eben auch ein Zustand- und niemand kann durchgehend perfekt sein.

Schon im Vorfeld haben wir über diese Veränderungen gewitzelt, besonders über die potentielle Hirnschrumpfung, denn wir wussten ja, dass es so kommen kann: Das „Winter-Over-Syndrome“, Folge von Reizarmut, geographischer Monotonie und extremer Umwelt. Die NASA/Charité Berlin und die Uni München erforschen nicht umsonst alles Mögliche an uns: unsere Gehirne, unseren Stoffwechsel, unsere psychischen Reaktionen, unsere Leistungsfähigkeit und unser Immunsystem. So eine Überwinterung kommt einer Raummission für Erdenverhältnisse sehr nahe. Man weiß, dass bestimmte Botenstoffe abfallen und Hirnregionen schrumpfen können (Publikation dazu: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/nejmc1904905), dass das Immunsystem herunterfährt und Stresshormone heimlich den Körper fluten. Bei uns ist die Sache mit den Hirnveränderungen ein Running Gag geworden und wir warten spaßhaft immer darauf, dass jemand den berühmten „Antarctic Stare“ entwickelt, eine Art hypnotischen Zustandes geistiger Abwesenheit (tut bisher leider keiner – vielleicht geht es uns einfach noch zu gut). Zum Thema Hirnschrumpfung hat Markus bei unserer Ankunft auf Neumayer folgendes Exponat erstellt – nach seinen Angaben sind unsere Gehirne jetzt im Zustand des gepufften Haferkorns mit fortschreitender Tendenz zum Rosinenstadium.

Natürlicher Verlauf der Überwinterergehirns, Cerebrum homo sapiens antarcticus überwinterus; Exponat: Markus Schulze (Foto: Aurelia Hölzer)

Jedem ergeht es etwas anders und jeder geht auf seine Weise damit um. Was wir aber alle haben, ist ein vermehrtes Schleckerbedürfnis – auch das ist beschrieben und wir geben dem relativ ungehemmt nach. Werner, der uns ohnehin nach Strich und Faden verwöhnt, hat schon zu Beginn unserer Überwinterung die Speisekammern aufgesperrt, damit alle jederzeit Zugriff haben und, wenig überraschend, greifen wir ordentlich zu. Zur Schleckerstunde zwischen drei und vier Uhr nachmittags trudelt oft der eine oder andere im Speisesaal ein. Manchmal macht das Überwinterungshirn es einem dabei schwerer, als es sein müsste. Hannes kommt einmal hereingedriftet, etwas bleich und müde wie wir alle, offenbar auf der Suche nach etwas zum Naschen. Sein Gesicht zeigt matte Ratlosigkeit. Aurelia sitzt schon am Tisch und isst. „Das Schokomüsli hier kann ich Dir sehr empfehlen“, versucht sie, es ihm leichter zu machen. Hannes schaut auf, dann wieder ratlos in den halbgeöffneten Kühlschrank und tut einen seelentiefen Seufzer: “es ist schwer!“

Schlemmen nach Überwinterungs-Art (Sonntagswaffeln Deluxe) (Foto: Aurelia Hölzer)
Schlemmen nach Überwinterungs-Art (veganer Schokobrownie) (Foto: Aurelia Hölzer)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Winterhirn treibt aber auch fröhliche Blüten. Beim Mittagessen wurde neulich, federführend von Benita (die kennt sich da aus), überlegt, wer von uns wohl am ehesten welches Tier wäre. Abends wurde der Gedanke von Werner und Komplizen weitergesponnen. Das Ergebnis: wir wissen jetzt, wer von uns was für ein Gegenstand wäre – und wie günstig!

Rohrzange Werner

6,99 €
Sonnenmarkise Aurelia (Sonderpreis) 499 €
Strandtuch Michael 29,99 €
Kinderhochstuhl Hannes (Vollholz, zertifiziert) 99,99 €
Seidenpeeling Benita „Pfirsich-Melone“ (vegan) 8,95 €
Babytragetuch Alicia (verschiedene Farben) 34,99 €
Taschenkalender Karsten 2022 (reduziert von 8,95 €) 2,99 €
Thermomix Katrin 3995 €
Gläserset Markus, 24-teilig (Angebot)

78 €

Was für Gerichte wir wären und wer die Bratwurst, soll Ihnen an dieser Stelle dennoch erspart bleiben.

Im Gutgehen-Lassen sind wir nach wie vor groß, das fängt schon beim Essen an. Markus überrascht uns mit Sonntagswaffeln, es werden Kuchen, Plätzchen und frisches Bauernbrot gebacken, Grießbrei und Milchreis gekocht. Werner ruft einen Pizza-Wettbewerb aus. Er hat seinen mittlerweile berühmten Pizzateig gemacht (gaaanz langsam gegangen), jeder bekommt einen 250-Gramm-Batzen (Profi eben). Dann wird es voll in der Küche, überall wird ausgerollt und belegt und beim Nachbarn gespickelt. Dazu wird eine gute Flasche Rotwein geöffnet, aus den Boxen tönen Adriano Celentano und Paolo Conte. Italienischer Abend. Am Ende gewinnt einstimmig Michas Pizza den Preis der Herzen.

Pizza-Contest (Foto: Aurelia Hölzer)
Überraschungswaffeln! Die Freude ist groß, die Zurückhaltung klein (Foto. Aurelia Hölzer)
Werner hat den Countdown ausgerufen: die letzten drei Orangen sind angezählt (Foto: Aurelia Hölzer)
Germknödel Neumayer Art (Foto: Benita Wagner)
Selbstgebackenes Bauernbrot von Hannes (Foto: Benita Wagner)
Benita beim Geburtstasgbouldern (die Geschenke sind im goldenen „Schnatz“ versteckt) (Foto: Aurelia Hölzer)

Abends sitzen wir oft gemütlich in der Lounge beisammen, es wird gelesen und geschwatzt, Werwolf gespielt, Musik gehört und Billard gespielt oder ein Film angeschaut, manchmal auch alles gleichzeitig. Mit dem restlichen matten Elan bekommen wir trotzdem noch einiges hin: die Dreharbeiten zu unserem Film gehen langsam voran (nein, wird an dieser Stelle nicht gespoilert), die Akrobatik-AG findet statt sowie Yoga und „Workout mit Benita“, in der Werkstatt auf U1 gibt es Unterricht im Elektrodenschweißen, der Platzwunden-Workshop wurde gehalten und auf der Galerie wurden eine Slackline und ein Badminton Court eingeweiht. Auch Fitnessraum und Sauna werden gerne genutzt, Benita klettert was das Zeug hält an ihrer 2x2m Boulderwand (Geburtstagsgeschenk) und Micha fotografiert wie ein Weltmeister. Man kann es sich hier durchaus gutgehen lassen.

Drum, liebe Freunde im sonnenbeschienenen und hitzeheimgesuchten Norden, macht Euch um uns keine Sorgen. Kälte, Finsternis und Abgeschiedenheit sind völlig unterbewertet. Wir haben es toll hier!

Leser:innenkommentare (5)

  1. Meike Trautmann

    Sehr, sehr schön geschrieben 🥰 Kann mir alles bildlich vorstellen 👍freut mich, dass ihr euch so super versteht 🥰macht weiter so🥰 ganz liebe Grüße an alle🥰Meike Trautmann 😊

  2. Gabi

    so ein wunderwunderschön geschriebener Text! Auch wenn ich Dunkelheit und Kälte gar nicht so lange ertragen könnte, hätte ich nach dieser Lektüre doch Lust, einmal so muckelig und herausfordernd zugleich eine Team-Erfahrung fürs Leben zu machen. ich freu mich für euch!

  3. Brigitte Stump

    Vielen Dank für die tollen Fotos und den interessanten Einblick in das Leben während der Polarnacht. Einzigartig!!

  4. Jonas

    Sehr schön geschrieben !

  5. Sonia

    Me encanta leer vuestras experiencias y me hace viajar cerca de vosotros. Gracias

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