Und los geht’s!

Messungen (Foto: Alicia Rohnacher)

Liebe Leserinnen und Leser,

zeitlich gesehen sind wir ordentlich im Hintertreffen, dabei haben wir so viel zu erzählen! Die Zeit zerrinnt hier, oder aber sie steht still und läuft anderswo weiter, wer weiß das schon. Wir drehen sie jedenfalls nochmal zurück zu unserer Ankunft an der Station: Aussteigen aus dem Hubschrauber, Überwältigtsein, erschöpftes in-die-Federn sinken.

Und los geht’s mit dem Neumayer-Leben! Der erste Arbeitstag beginnt in gestrecktem Galopp: Besprechung, Frühstück, Sicherheitseinweisung und Fluchtwege- Tour, Nachhilfe in was-ziehe-ich wann-an (eincremen und Gletscherbrille nicht vergessen!), Mittagessen, abwaschen, die erste Skidoo (Motorschlitten)- Fahrstunde. Anschließend taucht jeder in seinen Fachbereich ab.

Jeder Alt-ÜWI hat jetzt einen Neu-ÜWI auf den Fersen, der ihm wie ein Schatten überall hin folgt, immer mit gezücktem Notizbuch. Wir sind die neue Antarktis-Task-Force im Windel- Alter. Im Turbo-Verfahren werden wir eingearbeitet, denn Corona bedingt sind wir spät angereist, der antarktische Sommer neigt sich dem Ende zu, die verbleibende Zeit ist knapp. Ab und an sehen wir neu-ÜWIS uns, beim Essen oder aus der Ferne bei der Arbeit. Man trifft Micha am Müllcontainer bei seiner ersten Pistenbullyfahrt, wie er strahlend aus der Fahrerkabine springt: so schön kann Müll wegbringen sein.

Aus dem Fenster der Lounge kann man Markus sehen, wie er sich in den Schnee wirft, um das Schnee- fegen an den Lippen zu spüren- das gehört tatsächlich zur regelmäßigen Wetterbeobachtung dazu. Wir nennen es den „Kniefall vor der Antarktis“. Katrin taucht im Hospital auf, im Blaumann, mit Klemmbrett in der Hand, und zeigt auf ein dickes silbernes Rohr an der Decke: „Ist das Zuluft oder Abluft?“ Und auf das Waschbecken weisend: „Wo geht denn der Abfluss hin, direkt in die Kläranlage? Kippst Du da Desinfektionsmittel rein“? Wir müssen lachen. An was man alles denken muss! Natürlich wollen wir unsere Klärbakterien nicht töten, also: nein, kippen wir lieber kein Desinfektionsmittel rein. Alles will gelernt und durchschaut werden. Die Alt-Überwinterer, die uns einarbeiten, sind dabei sehr unterstützend und nehmen uns herzlich auf. Vielen Dank dafür an dieser Stelle!

Zum inhaltlichen Trubel im eigenen Kopf kommt das Leben auf einer Forschungsstation, die einem Bienenstock gleicht. In der Sommersaison sind viele Leute hier, mit unterschiedlichen Anliegen und Aufgaben. Expeditionen kommen und gehen, Pistenbullys werden zerlegt und wieder

zusammengesetzt, ein Kran fährt hin und her, Frachtkisten uns noch unklaren Inhalts türmen sich auf der Galerie, letzte Wartungsarbeiten an Gebäude und Messinstrumenten werden durchgeführt, gleichzeitig wird schon die große Abreise der sog. „Sommergäste“ vorbereitet.

Abschied beim Expeditionsaufbruch zum „Watzmann“ (Foto: Aurelia Hölzer)

Das Haus ist voller Menschen, überall ist jemand. Zum Glück sind es sehr nette Menschen, die uns mit offenen Armen aufnehmen. Beim Essen oder abends in der Lounge lernen wir sie nach und nach kennen. Es wird zusammengesessen, gequatscht und gelacht, Billard oder Tischtennis gespielt, in der Sofa-Ecke auf der Galerie Musik gemacht, Siedler gespielt oder abends an die Bucht gefahren.

Übergang vom Schelfeis (links) zum Meereis, das die Atka-Bucht bedeckt (Foto: Benita Wagner)

In der Antarktis zu sein, ist in der Anfangszeit ziemlich überwältigend. Die Intensität hier, die eigenartige, wunderschöne und zugleich fremde Atmosphäre muss man erstmal verarbeiten, sich regelrecht darauf einschwingen. Wir machen uns gleich daran, die Gegend zu erkunden, immerhin ist das hier jetzt unser Zuhause. Die Skidoo-Ausfahrten sind herrlich. Ausgerüstet mit Thermoskanne, Schokoriegel und Fotoapparat geht es (natürlich eingecremt und mit Gletscherbrille!) an die Schelfeiskante am Nordanleger, wo das Eis ins Meer abbricht, oder an die Atka-Bucht. Es ist unfassbar schön hier!

Die Welt aus Eis und Meer ist so veränderlich, es ist kaum zu glauben. Jeden Tag sieht es anders aus, auch wenn offiziell „nichts passiert“. Auch das Licht verändert sich, es gibt wieder Sonnenuntergänge. Eines Tages bricht die Atka-Bucht auf! Die meterdicke Meereisschicht schiebt sich jetzt in großen Schollen hin und her, hebt und senkt sich mit dem Tidenhub. Es knarzt und kracht und ächzt und kreischt, je nach Wind und Wetter, Lust und Laune. Sofort finden sich Robben ein, die sich auf den Schollen neben den Wasserlöchern faul in der Sonne räkeln. Dann kommt der Südwind und treibt ohne viel Federlesens die Eisschollen aus der Bucht hinaus. Wir haben jetzt ein Haus am Meer! Natürlich sind es noch ein paar Kilometer bis zur Wasserkante, aber aus den Fenstern nach Osten hin kann man das Blau des Wassers und ein paar Eisberge sehen, die in die Bucht driften und wieder hinaus. Jetzt begreift man, was man vorher eher als theoretisch empfunden hat: dass wir tatsächlich auf schwimmendem Gletschereis, dem Schelfeis, wohnen. Neben uns ist Wasser, weit unter uns auch.

Schneesturmvogel an der Schelfeiskante des „Nordanlegers“ (Foto: Aurelia Hölzer)

Es ist wundervoll, die Tiere zu beobachten. Schlohweiße Eissturmvögel gleiten blitzschnell und elegant entlang der Schelfeiskante, immer die Aufwinde nutzend. Bei Sturm und starker Schneedrift segeln Skuas, riesige braune Raubmöwen, im Wind, gleiten ganz nah über unseren Köpfen entlang und schauen uns genau an. Wir sie auch! Es ist eigenartig, sich Auge in Auge mit so einem großen, wilden Vogel wiederzufinden. Was sehen sie denn? Pinguinküken sind wir mit Sicherheit nicht. Apropos Pinguine: die haben sich fertig gemausert und sind vom Gelände verschwunden, in die Bucht, wo sie sich dick und fett fressen. Manchmal sehen wir sie mit viel Krakeelen von A nach B durchs Wasser planschen.

Rasend schnell steht die offizielle Stationsübergabe vor der Tür. Dieser Anlass wird so offiziell begangen, wie es in der Antarktis eben geht. Es werden – nicht zu lange- Reden gehalten, die „alten Überwinterer“ bekommen Medaillen für ihre Überwinterungsleistung, wir „neuen Überwinterer“ unterschreiben die Übernahme der Station. „Ich unterschreibe nur, wenn ihr auch alle unterschreibt“ wird unter uns neu-ÜWIs gewitzelt, wenn einer zur Unterschrift nach vorne geht. Bei aller Heiterkeit ist es durchaus ein großer Moment. Wir bekommen diese einzigartige Station, die kostbaren jahrzehntelangen wissenschaftlichen Messreihen und die Fürsorge füreinander in die Hände gelegt. Es fühlt sich gut und richtig an. Wir haben viel Verantwortung, viele Spielräume und das ungeheure Privileg, an diesem einmaligen Ort leben und arbeiten zu dürfen. Es liegt in unserer Hand, was wir daraus machen. Wir freuen uns riesig darauf!

Wenig später kündigt sich ein Wetterumbruch an, es soll viele Tage lang stürmen. Das Wetter hat in der Antarktis immer die Hosen an. Die Floskel „weather permitting“, wenn es das Wetter erlaubt, wird so ziemlich jeder Planung hinzugefügt. Jetzt erlaubt es gerade nicht, das Wetter. Der geplante Abflug der „Alt-ÜWIs“ wird deutlich vorgezogen, damit sie noch vor dem Sturm wegkommen- ihre Weiterflüge nach Kapstadt und zurück nach Deutschland hängen dran. Unvorhergesehenes gewohnt, packen sie blitzschnell ihre Sachen, keine 24 Stunden später heben sie ab und sind weg, auf dem Weg zurück in die Zivilisation.

Kurz darauf verlassen uns auch die übrigen Sommergäste. Wir haben sie richtig gerne und hatten eine tolle Zeit zusammen, aber, um ehrlich zu sein: wir freuen uns, dass sie abreisen! Ein Überwinterer ist naturgemäß nur ein Überwinterer, wenn er in der Einsamkeit, der Abgeschiedenheit der Antarktis zurückgelassen wird. Flieht ihr Narren – und nehmt die Sonne mit! Viel Spaß beim Briefkasten leeren! Umarmt einen Baum für uns! Wir stehen am Flugfeld, winken schlagen Purzelbäume neben der Startbahn. Mit viel Schneestieben und Getöse startet das Flugzeug auf Skiern durch, hebt ab und verschwindet als Punkt am östlichen Himmel. Wir sind allein! Jetzt geht es erst richtig los.

Abschied an der Flugpiste – die letzten Sommergäste reisen ab

Leser:innenkommentare (7)

  1. Meike Trautmann

    Wieder ein sehr interessanter Beitrag🥰 Da macht das Lesen Freude🥰

  2. Matthias Wolniczak

    Scheint ja ne coole truppe zu sein
    👍👍👍👍👍🙋‍♂️

  3. Die Siegerländer

    Hallo an euch ÜWis!

    Wir sind wieder mal sehr fasziniert vom Blogkommentar und schon „alteingesessene“ Aktablogleser, weil einer von „uns“ nun ein Alt-ÜWi ist und wir den Blog schon länger verfolgen ;-)

    Wir wünschen euch eine super schöne Überwinterung!
    Auch wenn es gerade bei knappen 30 Grad unvorstellbar ist im Polaranzug durch die Gegend zu laufen.
    Wir freuen uns auf weitere Kommentare!

    Viele Grüße

    Die Siegerländer

  4. Brigitte

    Ich freue mich schon auf weitere Beiträge von euch, gutes Gelingen dort. 👍🏻

  5. Eberhard Schmid

    Ich und Kommentar? Nein? Normalerweise!
    Aber das alles interessiert mich wirklich sehr und so freue ich mich, wenn ich über einen der Väter diese Informationen lesen darf!
    Viele Grüße Eberhard.

  6. Christian Ruthenberg

    Liebe ÜWIs,
    vielen Dank für den Einblick mit den vielen tollen Fotos und dem schönen Text dazu. Da freue ich mich schon auf die nächsten Beiträge hier im Blog.

    Schöne Grüße aus dem Norden
    Christian

  7. Julia Härtl

    Danke für Euren wieder tollen Bericht und den damit verbundenen gedanklichen Ausflug zu Euch! Eine gute Zeit Euch allen!
    Ich freu mich auf den nächsten Ausflug!

    Ganz liebe Grüße
    Julia vom Chiemsee

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