Der Zauber des fortgesetzten Zählens

Ein ÜWI: Nur noch 3.319 Kilometer zum nächsten Supermarkt. Die Geophysik beim Gang zum magnetischen Observatorium. (Foto: Zsofia Juranyi)
Ein ÜWI: Nur noch 3.319 Kilometer zum nächsten Supermarkt. Die Geophysik beim Gang zum magnetischen Observatorium. (Foto: Zsofia Juranyi)

Es mag auf der Erde noch entlegenere Orte geben als die Neumayer-Station – viele sind es sicherlich nicht. Und neben den wertvollen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die man nur hier sammeln kann, liegt gerade in der Tatsache, dass dieser Ort so einsam, schwierig zu erreichen und isoliert ist, ein Teil seines Reizes. Die Vorstellung, seinen Lebensmittelpunkt in einen Gefrierschrank zu verlegen, der in einem nur selten zugänglichen Windkanal steht, ist für viele wahrscheinlich weniger attraktiv.

****+ Gefrierschrank: Blick vom Watzmann. Die Eisberge treiben in ungefähr 25 Kilometer Entfernung in der Atkabucht. (Foto: Tim Heitland)
****+ Gefrierschrank: Blick vom Watzmann. Die Eisberge treiben in ungefähr 25 Kilometer Entfernung in der Atkabucht. (Foto: Tim Heitland)

Uns aber gefällt dieses ausgesetzte Sein und uns gefällt die Herausforderung, die darin liegt. Wir haben uns bewusst dafür und damit auch für eine gewisse Isolation entschieden. Wohlwissend, dass sie zeitlich begrenzt und sorgfältig vorbereitet ist. Denn wer vernunftbegabt und kein Anhänger von Zufall, Chaos und monatelangem, improvisiertem Wintercamping bei Tütennahrung ist, der ist gut beraten, einen Antarktisaufenthalt geplant anzugehen. Wenn im Februar mit dem letzten Flieger auch die letzte Möglichkeit, die Vorräte aufzustocken, das Dronning-Maud-Land verlassen hat, ist es für spontane Bestellungen zu spät – was dem eben noch freudig dem Flugzeug Nachwinkenden wenig später schon und dafür umso länger bewusst werden könnte.

Zwei ÜWIs: Dank guter Planung sind die Lebensmittelvorräte nicht knapp. Die Bohrung dient deshalb auch nicht etwa dem Eisangeln, sondern der Wissenschaft – die Meereisphysik bei der Meereismessung. (Foto: Tim Heitland)
Zwei ÜWIs: Dank guter Planung sind die Lebensmittelvorräte nicht knapp. Die Bohrung dient deshalb auch nicht etwa dem Eisangeln, sondern der Wissenschaft – die Meereisphysik bei der Meereismessung. (Foto: Tim Heitland)

Wer im März feststellt, dass die Station eine Schraube locker oder nicht alle Tassen im Schrank hat, wer im April vor leeren Essenslagern steht oder im Mai barfuß die Absenz von Reservesocken beklagt, der kann zwar vorübergehend mit Klebeband und Tassenteilen, einer Fastenkur und frierenden Füssen experimentieren, hat aber, gelinde gesagt, ein längerfristiges Problem. Zum nächsten Haushaltswarengeschäft, Bau-, Super- und- Bekleidungsmarkt ist es nämlich weit. Der Supermercado La Anonima in Ushuaia, Südamerika, liegt immerhin in 3.320 Kilometer, das Golden Acre Shopping Center in Kapstadt in 4.419 Kilometer Entfernung. Luftlinie wohlgemerkt, welche ohne Flugzeug nicht nur angesichts des südlichen Polarmeeres schwierig zu bereisen ist. Sicher, man könnte bei der momentanen Meereisbedeckung eine mehrwöchige Wanderung unternehmen und dann für die letzten paar hundert Kilometer auf einer Eisscholle ein Bettlaken hissen. Aber wirklich praktikabel ist das nicht.

Zudem ist dort von unzureichenden Lagerbeständen an für hiesige Breiten relevanten Ersatzteilen auszugehen. Sicher weiß ich es nicht, aber Zweifel an einer übermäßigen Nachfrage an Pistenbullyketten und Skidookufen in Südafrika scheinen berechtigt. Das Allermeiste wird aber ohnehin mit dem deutschen Forschungs- und Versorgungseisbrecher „Polarstern“ aus Bremerhaven geliefert. Sofern man es rechtzeitig bestellt hat. Und rechtzeitig heißt: Ungefähr jetzt.

Drei ÜWIs, zwei Fahnen, eine Messstation: die Geophysik bei der Arbeit. (Foto: Tim Heitland)
Drei ÜWIs, zwei Fahnen, eine Messstation: die Geophysik bei der Arbeit. (Foto: Tim Heitland)

Richtig bestellen kann dabei aber nur der, der auch weiß, was er braucht. Um aber zu wissen, was man braucht, muss man prüfen, was man hat. Also: Inventur. Oder besser gesagt: Inventur, Inventur, Inventur. Während der letzten vielen Wochen wurde, neben dem Routinebetrieb, in der Atkabucht so ziemlich alles gezählt, was man zählen kann.

Das ist gleichermaßen aufwändig wie notwendig. Und bietet neben der Grundlage für eine sinnvolle Bestellung auch die Gelegenheit, das sichere Beherrschen des Zahlenraumes bis 1.000 sowie der Grundrechenarten eindrucksvoll unter Beweis stellen zu können. Wohl dem, der Graf Zahl in der Sesamstrasse seine volle Aufmerksamkeit schenkte und jetzt glänzen kann. Eine wunderbare Beschäftigung und Quell großer Freude. Doch jegliches hat seine Zeit, auch die Inventuren. Wie schade, dass mit ihnen der Zauber des fortgesetzten Zählens zu Ende ging. Als Trost aber bleibt jetzt wieder mehr Zeit für anderes.

Für Pinguine zum Beispiel. Und das genau zur rechten Zeit. Denn aktuell schlüpfen die Kleinen. Wie viele es sind, ist allerdings unklar. Sie gehören zu dem Wenigen, das ungezählt blieb.

Viele Grüße von der Neumayer-Station, an der alle Schrauben fest sitzen und sämtliche Tassen im Schrank sind.

Eines der unzähligen ungezählten Pinguinküken. Aus (für die Tiere) sicherer Entfernung mit dem Teleobjektiv fotografiert. (Foto: Tim Heitland)
Eines der unzähligen ungezählten Pinguinküken. Aus (für die Tiere) sicherer Entfernung mit dem Teleobjektiv fotografiert. (Foto: Tim Heitland)

Leser:innenkommentare (6)

  1. Ivo

    Spannend wäre jetzt gewesen, wie viele Schrauben fest sitzen, und wie viele Tassen im Schrank stehen ;-)

    viele Grüße,
    Ivo

  2. Marlene Rembacz

    Herrlich locker, leicht geschrieben – und doch informativ. Freue mich auf den nächsten Bericht. Liebe Grüße in die Kälte, interessante Beobachtungen und Erkenntnisse
    Marlene Rembacz

  3. Andreas Hüfner

    Hallo Tim, klasse Blog! Mach weiter so und genieße die Zeit am „Ende der Welt“. Viele Grüße aus der ZNA in Regensburg.

  4. Guenter

    Eure Blogs sind immer wieder ein (literarischer) Genuss ;-)
    Kann den nächsten Bericht kaum erwarten …

  5. Stefan Hodrius

    Ich finde das ziemlich spannend. Danke für den schönen Bericht.

  6. sylvia süß

    hallo üwis, hab seit bau der Neumayer III oft daran gedacht wie gut gemacht damals dieser live blog war. und vor allem war ich von palaoa geradeso fasziniert. habe es die ganze nacht angelassen. bin damit eingeschlafen und wenn die Verbindung gehalten hat auch damit aufgewacht. habe den Großteil des damaligen sommers damit verbracht euch per Internet zu begleiten.

    hab das vermisst, aber nun wieder euren blog entdeckt und ich werde euch noch die restlichen Monate von meiner warmen stube aus begleiten.

    alles gute für die restliche zeit

    Sylvia

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