Herbstspaziergang

Foto: Zsófia Jurányi

Neumayer-Station   Das „Spuso“ genannte Spurenstoffobservatorium liegt 1500 Meter südlich der Station. 1500 Meter, die ausschliesslich zu Fuß zurückzulegen sind, sollen im Observatorium doch der Aerosol- und Partikelgehalt der Luft, nicht aber der etwaiger Abgase gemessen werden.

Foto: Tim Heitland

Der Weg zum „Spuso“ (der orangefarbene Container unterhalb des Horizontes) kann so….

Foto: Tim Heitland

… oder so aussehen.

Eineinhalb Kilometer. Eine Strecke, die man in zehn Minuten laufen kann. Wenn man kann.

Eine Strecke, die man alternativ auch in einem 22 minütigen Spaziergang zurücklegen kann. Wenn man eher der ruhige Typ ist. Und das Wetter mitspielt. Was zuletzt immer seltener der Fall war. Denn mit dem Herbst kamen die Stürme. Das Maximum der von uns bisher gemessenen Windgeschwindigkeiten liegt bei 65 Knoten. Ein Umstand, der den Dialog „Ich geh dann mal zum Spuso“ – „Alles klar, viel Spaß“, durchaus zu „Ich geh dann mal zum Spuso“ – „OK, schau aber bitte, dass Du nicht wegfliegst. Hast Du auch GPS, Funk und eine Begleitung dabei?“ werden lassen kann. 65 Knoten entsprechen immerhin 120 km/h. Im windstillen gelesen ein abstrakter Wert. Unvorstellbar, meist mit keinem eigenen Erleben verbunden. Und beschreiben lässt sich die Kraft des Windes auch nicht wirklich.

Der Interessierte könnte vielleicht auf der Autobahn seine Hand aus dem Fenster halten und dann versuchen, durch äußerste Willensanstrengung, den ganzen Körper eins mit der Hand werden zu lassen. Hilfreich wäre es zudem, das Experiment bei -20° C durchzuführen und dabei eine weiß abgeklebte Brille zu tragen. Es würde insgesamt zwar ein leicht befremdliches Bild erzeugen, durchaus aber einen Eindruck von den Bedingungen hier vermitteln. Sinnvoll scheint, nebenbei bemerkt, wenn Fahrer und Proband nicht ein und die selbe Person sind.

“Wieso aber bei einem Wetter draußen herumspazieren, bei dem man keinen Hund vor die Türe jagen würde. Es sei denn natürlich, es wäre ein Husky”, höre ich jetzt den windzerzausten Leser an der Autobahnraststätte fragen. “Was soll denn der Quatsch?”. Die Antwort ist einfach: “Weil das magnetische Observatorium alle drei Tage und das Spurenstoffobservatorium sogar täglich betreut werden wollen. Andernfalls würden wir einen guten Teil unserer hiesigen Daseinsberechtigung verlieren. Und das kann ja auch keiner wollen”. “Na gut. Aber zieht euch wenigstens etwas Warmes an!”. Machen wir.

Stationseingang      Am Körper ist das weniger ein Problem. Eher schon frieren Hände und Füße. Wobei auch die in den ungefähr 35 Minuten, die der Spaziergang unter erschwerten Bedingungen dauert, nicht erfrieren. Um den Hals kommt ein Schlauchschal, über den Kopf eine Sturmhaube, vor das Gesicht ein weiterer Schal. Mütze, Schneebrille, Kapuze darüber. Fertig. Einen Hitzschlag vermeidet bei all dem übrigens der, der sich erst unmittelbar vor der Stationstüre anzieht. Ein Vorgehen, dass zudem einen Ausblick aus dem Fenster bietet, welcher die Vorfreude auf den Spaziergang weiter steigern kann. GPS- und Funkgerät anschalten. Fertig? Fertig! Tür auf, raus und:

Willkommen im Windkanal – Blick aus dem Eingangsbereich unter die Station. Foto: Tim Heitland

 

Unter der Station     “Bam!”, packt einen der Wind. Gleich zu Beginn mit besonderer Gewalt, denn die Station erzeugt einen Düseneffekt, der dem Wind mit ungefähr 20 zusätzlichen Knoten unter die Arme greift. Ordentlich gegenlehnen also. Nichts wie raus aus der Düse, erstmal Strecke machen. Plötzliches Taumeln aber, was war das denn? Böen! Prima. Der Wind mal wieder. Scherzkeks, alter. Hat man sich erstmal gemütlich in seine Arme fallen gelassen und den persönlichen Komfortwinkel gefunden, zieht er sie direkt zurück.

Willkommen in der Drift. Foto: Tim Heitland
Willkommen in der Drift. Foto: Tim Heitland

 

Unterwegs    Wenn es etwas ruhiger wird, man den Stationsbereich und die Düse verlassen hat, erwartet einen: Das große weiße Nichts. Der Wind bringt Drift mit sich, fliegenden Schnee, der alles verschluckt. Die Sicht, das Licht. Gut, dass es die Handleine zur Orientierung gibt. Da entlang also. Nach Kurzem dann: Blick zurück, nichts. Die Station ist nicht mehr zu sehen. Links: Nichts. Rechts: die Handleine, ansonsten nichts. Blick nach Vorne: überraschenderweise ebenfalls nichts. Und laut ist es. Irre mitteilenswerte Erkenntnis! “Ganz schön laut ist es hier!”, schreie ich deshalb der Atmosphärenchemikerin ins Ohr. “Was meinst Du?”, schreit sie zurück. “Laut ist es!”, erwidere ich. “Ich versteh` dich nicht, es ist so laut hier!”, antwortet sie. Sag ich doch. Wahrscheinlich würde man unter den drei Mützen auch ohne den Lärm des Windes kein Wort verstehen. Also schweigend weiter. Gehen. Im Nichts. Klein kommt man sich vor. Und klein ist man. An diesem Ort. Seltsam, wie man sich mit jedem Schritt weiter ins Nirgendwo zu tasten scheint. Obwohl man den Weg so gut kennt und die so oft schon gesehene Szenerie klar vor dem inneren Auge hat. Trotz der Handleine und dem sicheren Wissen, dass an ihrem anderen Ende das „Spuso“ steht. In jetzt gerade mal noch einem guten Kilometer Entfernung. Gehen, Balance halten. Gar nicht so einfach.

Willkommen im Whiteout. Foto: Zsófia Jurányi

Denn im Whiteout verschwinden die Konturen, der Boden ist durch die getönte Scheibe der Schneebrille ein einziges stumpfes Gelb. Ist mal hartes Eis und Halt, mal zum Versinken weiche Schneeverwehung. Immer weiter. Gehen. Atmen. Ebenfalls nicht ganz einfach. Durch Schlauchschal und Sturmhaube vor Mund und Nase Luft zu holen. Erst recht, wenn sie durch die Atemluft nass werden. Sind sie aber erstmal eingefroren, dann wendet sich das Blatt. Und den perfekten Zustand erreicht man, indem man Beides im Moment des Gefrierens etwas von Mund und Nase entfernt zu einer Maske formt. Angenehm. So kann man es gut aushalten, jetzt wird es wirklich gemütlich. Weiter Gehen. Kurzer Check. Orientierung: Handleine rechts. Luft: Ausreichend. Wärme: Vorhanden. Gut. Zeit zum Genießen. Schön hier. Ruhe im Lärm. Viel Platz auch. Richtige White box. Projektionsfläche. Gut in Gedanken, mit Gedanken zu bespielen. An Bruce Chatwin beispielsweise. Und seinen gerade so passenden Roman „Traumpfade“, in dem er die „Songlines“ der australischen Ureinwohner beschreibt. Karten ihrer unsichtbaren, durch Lieder tradierten Wege, auf denen sie durch Gesang die Dinge erst ins Dasein riefen. Im Moment durchaus nachvollziehbares Konzept. Das Innere Australiens, Alice Springs erscheint. Der Weg zum Uluru. Die letzten Meter. Löst sich denn dort nicht schon ein orangener Schatten aus der Drift? Der Ayers Rock? Nein. Das Spuso. Selbstverständlich.

Fast da. Noch ein paar Meter bis zur Spuso. Foto: Tim Heitland

Ist ja auch ein anderer Kontinent. Und irgendwie 60°C kälter hier. Ein paar Schritte noch. Treppe hoch, Türe auf. Dann ist er verschwunden. Der Traumpfad.

Aber kein Grund traurig zu sein. Denn zurück muss man schließlich auch noch.

Stationsleiter Tim Heitland. Foto: Zsófia Jurányi
Stationsleiter Tim Heitland. Foto: Zsófia Jurányi

 

beste Grüße, Tim Heitland

 

 

 

 

 

Leser:innenkommentare (5)

  1. Michael knobelsdorf

    Hi Tim, wieder Mal ein Superbericht Wünsche euch alles Gute!, Passt auf euch auf.!!! Liebe Grüße Michael

  2. Daniel Meyer

    Vielen Dank für die Berichte!
    Da kriegt man wirklich Lust, das Ganze selbst einmal zu erleben…

  3. Moritz Kötteritzsch

    Hey Tim,

    sieht nicht mehr sooo gemütlich aus wie noch anfang des Jahres ;-)

    Besten Gruß an Alle!

  4. Markus Eser

    Oh ja… Das kennt man doch irgendwo noch ;-) Hat sich nichts geändert. Warum auch…

    Alles Gute bei Eurer Überwinterung und beste Grüße

    Markus

    (Elektrotechnik 35. Üwi-Team)

  5. Pascal Pe

    Ich habe schon ein paar mal üwis mit ausgestattet wenn es um die Bekleidung geht. Ich staune immer wenn man sieht was sie alles an Bekleidung bekommen.

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