Ny-Ålesund ohne Licht betrachtet

Weihnachtsdekoration in Ny-Alesund

Ein Gastbeitrag von Wilfried Ruhe, einem der ‚ältesten‘ Stationsgäste an der AWIPEV Station. Er verbringt dieses Jahr mal wieder Weihnachen in Ny-Ålesund und schreibt über die ganz besondere Stimmung zu diesen Tagen dort. Frohes Fest!

 

Selbstmord!

Eine Statistik besagt, dass 90% der Menschen in Europa zuerst an dieses Wort denken, wenn sie von Ny-Ålesund/Spitzbergen im Winter hören, einem Ort, der nur einen Schneeballwurf vom Nordpol entfernt ist.

Zugegeben, es ist meine persönliche Statistik, erstellt aus den Reaktionen der Menschen, denen ich erzähle, dass ich mich für einige Wochen in eben dieser Zeit an eben diesen Ort begebe.

Selbstmord!

10% denken nicht daran, wenn sie an Ny-Ålesund im Winter denken. Zu diesen 10% gehöre auch ich. Ny-Ålesund ist einer der wenigen Orte auf der Erde, in denen man im Winter keine Sonne sieht. Ja sogar für einige Wochen nicht einmal eine Ahnung hat, wo sie sich wohl gerade rumtreibt.

Ewige Dunkelheit?

Nein! Das ist viel zu kurz gedacht:

Wenn mir Leute erzählen, wie schrecklich es wäre so lange keine Sonne zu sehen, denke ich oft an die Menschen in meiner Heimat (Bremen), die im Winter morgens zur Arbeit gehen, noch bevor die Sonne aufgeht, den Tag in einem Büro, einer Halle oder an der Supermarktkasse verbringen, um  am Abend heimzukehren, wenn die Sonne schon wieder untergegangen ist:

Keine Sonne gesehen!

Irgend jemand pflegte zu sagen, wenn irgend jemand anderes von den schönen Orten dieser Welt, wie Rom, Paris oder Bremen schwärmte:

„Da stehen die Häuser auch nur draußen!“

Genauso ist es auch in Ny-Ålesund, hier stehen die Häuser auch nur draußen, aber wie für die meisten, die länger an (oder in?) einem Ort leben, sind das wichtigste an diesem Ort gar nicht die Häuser, sondern die Menschen darin. In diesem Licht betrachtet, ist es gar nicht dunkel in Ny-Ålesund. Hier tummeln sich Menschen aus aller Welt, um zu forschen. Sie versinken für ein paar Wochen in ihrer Arbeit, angetrieben von dem Gedanken irgendetwas herauszufinden, beflügelt von der einzigartigen Umgebung und begleitet von Menschen aus anderen Ländern, die ihrerseits etwas herausfinden wollen, meistens aber was anderes.

Sie erinnern mich an Goldgräber: Sie streifen durchs Land, suchen, graben und wühlen im Dreck (was manche tatsächlich tun) auf der Suche nach Bestätigung, Bestätigung für ihre Idee und nach Beweisen für ihre Theorie. Irgendwann fahren sie nach Hause, im Gepäck Zahlenkolonnen und Proben, tiefgefroren in flüssigem Stickstoff, die Proben, nicht die Zahlenkolonnen. Sogleich fallen dann neue Goldsucher ein.

Erwartet werden sie von den sogenannten „Permanenten“ jene, welche den Suchenden das Finden erst möglich machen. Sie sind die Menschen, die mehr oder weniger ständig hier leben, für ein, zwei oder auch mehrere Jahre. Die allermeisten von ihnen aber nicht für mehr als vier Jahre. Sie kennen die lichten und die dunklen Zeiten in Ny-Ålesund. Sie halten den Laden am Laufen. Sie sind aus allen möglichen und unmöglichen Gründen hier, haben alle möglichen und unmöglichen Jobs.

Da gibt es Tischler, Elektriker und Klempner, sie legen Hand an, wenn es irgendwo nicht läuft oder klemmt. Auch an diesem letzten Ort vorm Nordpol gibt es sie, die Verwaltung. Die Menschen darin verwalten Land und Leute und das ist auch gut so, da es schon einiges an Organisation bedarf, die Versorgung der Menschen hier, so weit weg von Allem aufrecht zu erhalten. Der vermutlich wichtigste Mensch im Ort  sitzt in der Powerstation und sorgt zuverlässig dafür, das wir Strom und warmes Wasser haben, was in der kalten dunklen Zeit nicht nur ein Segen sondern überlebenswichtig ist. Schließlich sind da noch die guten Geister, die unser Umfeld sauber halten. Einmal  die Woche fegen sie durchs Haus und wir sind wieder im Reinen. Nicht zu vergessen: Die Menschen in der Küche, sie sorgen dafür, dass alle hier im Ort dreimal am Tag eine ordentliche Mahlzeit bekommen und auch abends und nachts noch mal Zugriff auf was leckeres haben. Bis zu einhundertsiebzig Seelen bevölkern im Sommer diesen sonst so beschaulichen Ort. Da ist es schon ziemlich voll und laut,  nicht nur zu den Mahlzeiten in der Messe, die in dieser Zeit in Schichten eingenommen werden. Zuerst dürfen die  die Permanenten ran und dann die Gäste also die Forscher. Im Winter wird es nicht nur dunkler sondern auch ruhiger in Ny-Ålesund. Mit dreißig bis vierzig Leuten wird es schon fast familiär.

Ein Kontrastprogramm für alle die diese Wechselbäder miterleben.

Northern Lights und Ny-Alesund (Piotr Kupiszewski)

Einige Länder haben hier Forschungsstationen, die das ganze Jahr besetzt sind. Sie entsenden dazu das sogenannte Stationspersonal, diese Menschen gehören auch zur Klasse der Permanenten und sie sind für nahezu alle Belange der „Suchenden“ zuständig. Sie sind die Herbergsmutter bzw. Vater, die helfende Hand bei allen technischen Problemen und sie managen die logistischen Probleme, wenn die bitterkalten Proben irgendwie nach Hause geschafft werden müssen.

Sie alle zusammen kümmern sich immer wieder aufs Neue um immer wieder neue Gäste aus allen möglichen Kulturen mit allen möglichen Wünschen und allen möglichen Nöten und Sorgen. Vom Ladekabel fürs Smartphone, welches hier übrigens nicht benutzt werden darf, bis zu Krücken, die dankbar angenommen werden, wenn man sich hier zum Beispiel ein Bein gebrochen hat. Sogar der Hubschrauber wird organisiert, wenn es jemanden wirklich schlecht geht und dringend ärztlich versorgt werden muss.

Was mich in all den Jahren am meisten beeindruckt hat, ist die Bereitschaft dieser kleinen Gemeinschaft sich dieser Aufgaben anzunehmen. Klar: Sie machen „nur“ ihren Job. Aber hier ist es (fast) eine Einbahnstraße: Die Gäste kommen, brauchen etwas, wollen etwas, was natürlich immer  dringend ist, selten gibt so etwas wie einen Ausgleich, eine Gegenleistung.

Und doch sorgen die Permanenten immer wieder aufs Neue dafür, dass sich alle in Ny-Ålesund permanent wohl fühlen. Sie sind die Menschen, die in den Häusern leben, in den Häusern, die hier im Sommer für mehrere Wochen vierundzwanzig Stunden am Tag in der Sonne und im Winter für viele Wochen im Dunkeln aber immer draußen stehen. In den dunklen Zeiten machen sie die Lichter an in den Häusern und schon kommt Licht ins Dunkel.

So ganz dunkel ist es hier jedoch auch im Winter meistens nicht:

Selbst wenn sich die Sonne sich hinter der Erde versteckt, gibt es noch den Mond, der neben den Lichtern in den Häusern zu gegebener Zeit alles ein wenig erhellt. Er wirft ein ganz besonderes Licht auf Ny-Ålesund.

Wer einmal bei Vollmond an diesem speziellen Ort draußen in der Kälte gestanden hat, um inne zu halten, um das phantastische Bild aufzusaugen: Die schneebedeckten Berge im kalten, blauen Mondlicht, mittendrin das tiefschwarze Wasser des Fjords und als Tüpfelchen auf dem i dann noch Polarlichter dazu.

Wer hier gestanden hat und sich mit klappernden Zähnen geärgert hat, nicht doch etwas wärmeres angezogen zu haben, wird ganz sicher die Dunkelheit in einem ganz neuen Licht sehen und die Statistik einfach vergessen.

Leser:innenkommentare (6)

  1. Claus Peter Gödecke

    Gut beschrieben! Ich war leider nur mal kurz im September 2014 (mit der Antigua) im schon sehr verschneiten Ort dort! – Sehr beeindruckend! Einen schönen, beschaulichen Jahreswechsel wünsche ich Allen vor Ort!

  2. Reiner Gerke

    Lieber Wilfried Ruhe, vielen Dank für diesen Beitrag. Sie beschreiben sehr einfühlsam das Zusammenleben in der Polarnacht. Sicher für viele ein Graus, für mich ein unerfüllbarer Wunsch. Die permanente Dunkelheit, die relative Abgeschiedenheit und, wenn es einem danach ist, doch die Gemeinschaft der Mitbewohner, die wohl alle auf der selben Frequenz ticken.
    Herzliche Grüße
    Reiner Gerke

  3. Monika Bargmann

    schön – danke für die Beobachtungen.

  4. Petra weithaeuser

    Hochachtung an, für euch Lieben im Dienste der Menschheit…danke für Entfernungen, fehlen weitere Worte meinerseits, Petra, entbehrungen

  5. Marion Besemann

    Es ist echt sooooo toll was ihr für uns macht Am liebsten hätte ich mit gemacht denn in Ostfriesland ( BEI AURICH) konnten wir nichts mitbekommen schade eigendlich aber ihr seit ja noch da LG Marion

  6. Markus Karl Meier

    AWIPEV – Station! Für mich als nicht-wissenschaftlich tätiger „Normalbürger“ eine unglaublich lebendige Berichterstattung einer lebensfeindlichen Umgebung, welche durch die dort tätigen Menschen zu einer „lebendigen“ Umgebung wird! Auch die romantische Beschreibung der Umgebung bei Vollmond und mit Nordlichtern hat mich absolut in seinen Bann gezogen und muss, wenn man es denn dann dick genug gekleidet erleben darf, märchenhaft schön sein! Danke all denen, die dort unermüdlich für die Wissenserweiterung der Menschheit arbeiten! Liebe Grüße aus Braunschweig, der Stadt der Wissenschaft!

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